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Diese Geschichte handelt von einer Frau, die beschließt, dass sie kein Opfer sein will. Und sie handelt davon, wie unsere Gesellschaft mit Menschen umgeht, die sexuelle Gewalt erlebt haben.

Im Jahr 2013 ist Anna Schulz 23 Jahre alt, sie studiert Sozialpädagogik und arbeitet in der Jugendhilfe. Während eines erlebnispädagogischen Wochenendes mit Jugendlichen wird sie von einem Kollegen vergewaltigt. Sie wacht nachts davon auf, dass der Mann seine Hand unter ­ihren BH zwängt.

In ihrem Kopf schreit sie und wehrt sich mit Händen und Füßen. Ihr Körper aber liegt starr da. Sie bringt keinen Ton heraus, weint nicht, lässt es einfach geschehen. Am nächsten Tag macht sie Frühstück, erledigt ganz normal ihren Job. ­Irgendwie hofft sie, dass sie so tun kann, als sei nichts passiert. Sie irrt sich.

„Das erste Mal darüber zu sprechen, war schwer“

„Die ersten Tage nach der Vergewaltigung war ich wie in Trance. Ich konnte das alles nicht begreifen. Irgendwann wurde ich wütend auf meinen Körper. Warum hatte er sich nicht gewehrt, mich nicht verteidigt?

Es dauerte mehrere Wochen, bis ich eines Abends den Mut fand, mich einer Freundin anzuvertrauen. Das erste Mal darüber zu sprechen, war schwer, denn es bedeutete auch, zu akzeptieren, dass die Vergewaltigung wirklich passiert ist. Ich habe später auch mit meinem Mann geredet. Er spürte schon länger, dass etwas nicht stimmte und ich nicht angefasst werden wollte. Ich hatte Angst, dass unsere Beziehung zerbrechen könnte. Doch mein Mann war wie ein Schutzschild. Alles, was er sagte, zeigte mir, dass er bedingungslos an meiner Seite steht.

Ich informierte auch meinen Arbeitgeber. Mein direkter Vorgesetzter war verständnisvoll und sorgte dafür, dass der Täter und ich nicht gemeinsam Dienst hatten. Auch die Geschäftsführerin reagierte zunächst loyal, nach dem Motto ‚Wir Frauen müssen zusammenhalten‘. Dennoch legte sie mir ein Dokument vor, in dem ich mich verpflichtete, Stillschweigen über die Vergewal­tigung zu bewahren. Ich unterschrieb.“

60 Prozent der Frauen wurden sexuell belästigt

Sexuelle Gewalt ist allgegenwärtig. 13 Prozent der Frauen ab 16 Jahren in Deutschland haben in ihrem Leben Erfahrungen mit sexueller Gewalt gemacht, die strafrechtlich relevant war. Fast 60 Prozent wurden sexuell belästigt. Natürlich kann sexuelle Gewalt auch Männer oder non-binäre Personen treffen. Doch in über 90 Prozent der Fälle sind Frauen die Opfer und Männer die Täter.

„Der Entschluss, Anzeige zu erstatten, fiel in einer schlaflosen Nacht. Ich wollte, dass der Täter bestraft wird und nicht mehr mit Jugendlichen arbeiten darf, die vor sexualisierter Gewalt geschützt werden sollten. Und ich wollte mich endlich wehren, denn dazu war ich, während ich vergewaltigt wurde, nicht in der Lage. Eine Freundin begleitete mich zur Polizei. Ich musste die Vergewal­tigung in ­allen Details schildern. Der Kripobeamte, der die Vernehmung leitete, entschuldigte sich für diese belastenden Fragen. Ich hatte das Gefühl, dass der Beamte mir glaubt, mich ernst nimmt und an meiner Seite steht. Das war für mich unheimlich wichtig.“

Es ist wichtig, Spuren der Tat zu sichern

Vergewaltigungen sind vor Gericht schwer zu beweisen. „Bei Sexualdelikten gibt es oft keine äußerlichen Verletzungen. Sper­maspuren etwa beweisen, dass es sexuelle Handlungen gab, nicht, dass diese nicht einvernehmlich waren“, sagt Strafrechtlerin Christina Clemm, die als Anwältin schwerpunktmäßig Frauen vertritt, die Gewalt erfahren haben. Um die Chancen zu erhöhen, dass es zu einer Verurteilung kommt, ist es wichtig, Spuren der Tat zu sichern.

Seit 2020 haben Opfer sexueller Gewalt einen Rechtsanspruch, nach der Tat vertraulich Spuren sichern zu lassen. So können sie nach der Spurensicherung in Ruhe entscheiden, ob sie Anzeige erstatten möchten oder nicht. Wenden sie sich unmittelbar nach der Tat an die Polizei, müssen die Behörden ein Ermittlungsverfahren einleiten, das nicht gestoppt werden kann – selbst wenn Betroffene sich umentscheiden und doch keine Anzeige erstatten möchten. Die Möglichkeit zur vertraulichen Spurensicherung in Frauen­kliniken ist in Deutschland trotz Rechtsanspruch nicht etabliert.

Infos für Opfer sexueller Gewalt

• Kontaktieren Sie das bundesweite Hilfetelefon unter 116 016. Lassen Sie sich medizinisch untersuchen. Weitere Infos: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/hilfe-vor-ort.html

• Die vertrauliche Spurensicherung ermöglicht Ihnen eine rechtssichere ärztliche Dokumentation von Spuren, ohne Anzeigenerstattung. Falls das Angebot nicht verfügbar ist und auch Frauenärztin oder -arzt keine Spuren sichert, bewahren Sie Kleidung, an der DNA haften könnte, in einer Papiertüte (kein Plas­tik) auf. Machen Sie Fotos von sich und eventuellen Verletzungen.

• Im Falle einer Anzeige haben Sie ein Recht auf psychosoziale Prozessbegleitung. Infos dazu erhalten Sie bei der Polizei.

Rechtsanspruch auf vertrauliche Spurensicherung

Bisher haben nicht alle Bundesländer eine Einigung mit den Krankenkassen zur Umsetzung des Rechtsanspruches getroffen. „Wir hören von Frauen, die nach einer Vergewaltigung von Kliniken abgewiesen oder zur Polizei geschickt werden, weil sich in den Notaufnahmen niemand zuständig fühlt“, sagt Katharina Göpner, Geschäftsführerin des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt in Berlin „Immer wieder berichten Betroffene, dass sie für die medizinische Versorgung und Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten zahlen müssen.“

In München hat die Gynäkologin Dr. Franziska Wagner das Angebot zur vertraulichen Spurensicherung nach Sexual­delikten in der Uniklinik Großhadern mit aufgebaut. Wagner erklärt, wie bei einem Besuch in der Notaufnahme die Versorgung abläuft. „Frauen, die zu uns kommen, sind stark belastet, häufig geben sie sich selbst die Schuld an der Tat“, hat sie beobachtet. „Das drängendste Anliegen der Frauen ist es, medizinisch gut versorgt zu werden. Wir testen auf sexuell übertragbare Krankheiten, versorgen Verletzungen, händigen Rezepte zur Notfallverhütung aus.“ Auch Wagner kritisiert eine massive Versorgungslücke: „Die wenigsten Betroffenen wissen, dass sie einen Rechtsanspruch auf vertrauliche Spurensicherung haben. Die akute medizinische Versorgung nach sexueller Gewalt ist bisher nicht in allen Kliniken etabliert.“

„Ich fühlte mich nirgends sicher, nicht einmal im Schlaf“

„Ich stand kurz vor Abschluss meines Studiums. Mein Mann und ich steckten mitten in der Sanierung unseres Hauses. Doch nach der Vergewaltigung brach alles über mir zusammen, ich bekam Panikattacken, konnte nicht schlafen, Männer machten mir Angst. Ich fühlte mich nirgends sicher, nicht einmal im Schlaf. Ich hatte immer den gleichen Traum: Jemand beobachtet mich, während ich schlafe. Das war der absolute Horror. Dazu kamen Flashbacks. Manchmal reichte schon ein Geruch, der mich an den Täter erinnerte, aus, um meinen Körper in Alarmbereitschaft zu versetzen. Einmal sah ich während einer Autofahrt im Rückspiegel einen Mann, der ein ähnliches Auto wie der Täter fuhr und ihm ähnlich sah. Das genügte schon, um mich in Panik zu versetzen. Ich fuhr blindlings durch die Gegend und kam an einem ganz anderen Ort an als geplant.“

Traumatische Erlebnisse wie sexuelle Gewalt wirken zunächst wie ein Schock und sind mit starken, unangenehmen Gefühlen wie Angst, Wut und Scham verbunden. Verfestigt sich das Trauma, kommt es häufig zu Flashbacks, in denen harmlose Auslöser ausreichen, damit Betroffene die traumatische Situation wieder und wieder durchleben. „Eigentlich sollten Betroffene möglichst schnell eine Traumatherapie beginnen“, rät Katharina Göpner vom Frauennotruf. „Doch es gibt viel zu wenige Therapieangebote.“

Der Prozess vor dem Amtsgericht war sehr anstrengend

„Als mein Kollege eine Vorladung zur Vernehmung bei der Kripo bekam, bekam ich auf der Arbeit Hausverbot und wurde mit sofortiger Wirkung freigestellt. Mein Arbeitgeber warf mir Illoyalität vor, ich würde die Familie des Täters zerstören. Der Prozess vor dem Amtsgericht war sehr anstrengend. Während meiner Aussage saß die Lebensgefährtin des Kollegen direkt hinter mir. Ich musste Fragen zu Sexualpartnern und -partnerinnen, meinen sexuellen Vorlieben und angeblichen Gefühlen für den Täter beantworten. Der Prozess endete mit ­einer Verurteilung des Täters zu einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung.

Infos für Angehörige und Freunde

• Opfer von sexueller Gewalt geben sich häufig selbst die Schuld für die Tat. Machen Sie klar, dass Sie der oder dem Betroffenen glauben und für sie oder ihn da sein wollen.

• Vermeiden Sie unbewusstes Opfer-Blaming. Gemeint sind Aussagen, die andeuten, das Opfer trage eine Mitverantwortung für die Tat. Fragen Sie nicht, warum die Person nachts alleine unterwegs war, warum sie getrunken hat oder warum sie sich mit dem Täter verabredet hat. Diese Fragen stellt die Polizei ohnehin. Drängen Sie nicht zu einer Anzeige.

Der Mann legte Berufung gegen das Urteil vor dem Landgericht ein. Das Gericht forderte ein Glaubwürdigkeitsgutachten an, und wieder musste ich extrem belastende Fragen beantworten. Die Gutachterin bestätigte zwar die Glaubwürdigkeit meiner Aussage, doch das Verfahren wurde aus Mangel an Beweisen eingestellt. Mir war das in dem Moment egal, ich war nach drei Jahren, die sich der Prozess hingezogen hatte, nur froh, dass es vorbei war. Doch da irrte ich. Wenige ­Monate nach dem Urteil erhielt ich Post von der Polizei. Der Kollege hatte mich wegen Falschaussage angezeigt.“ (Anmerkung der Redaktion: Die Klage wurde abgewiesen.)

Zehn Prozent der Prozesse enden mit einer Verurteilung

Nur etwa zehn Prozent der Prozesse zu Sexualdelikten enden mit einer Verurteilung. Und die verhängten Strafen sind oft sehr milde, kritisierten Prof. Dr. Elisa Hoven und Prof. Dr. Frauke Rostalski jüngst in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die beiden Strafrechtlerinnen aus Leipzig und Köln analysierten in einer Studie 86 amts- und landgerichtliche Urteile aus den Jahren 2016 bis 2020, die sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung nach dem Erwachsenenstrafrecht zum Gegenstand hatten.

Bei sexuellen Übergriffen mit Gewalt lag die durchschnittliche Strafe bei einem Jahr und elf Monaten, bei Vergewaltigungen mit Gewaltanwendung waren es zwei Jahre und zehn Monate. Alle verhängten Strafen befanden sich im unteren Drittel des gesetzlichen Strafrahmens. In über der Hälfte der Verfahren wurde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

In Strafprozessen haben Opfer von Sexual­straftaten in der Regel ein Recht auf psychosoziale Prozessbegleitung. „Unser Ziel ist es, Betroffene in einem Verfahren bestmöglich zu begleiten“, so Prozess­begleiterin Susanne Hampe vom Verein BELLIS in Leipzig. „Die Justiz hat außer­dem die Erfahrung gemacht, dass Zeugen, die psychisch stabil sind, besser verwertbare Aussagen machen.“

„Heute weiß ich, dass ich mich wehren kann“

„Ich hatte Glück. Über die Mutter einer Freundin fand ich schnell eine Therapeutin. Sie half mir dabei, mich zu stabilisieren, damit ich meinen Alltag bewältigen konnte. Weil die Vergewaltigung während der Arbeitszeit stattgefunden hatte, musste ich zu einem Gutachter der Berufsgenossenschaft. Dieser bescheinigte mir eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund der Tat und vermittelte mich an einen Traumatherapeuten. In den Sitzungen sollte ich die Tatnacht immer wieder in allen Einzelheiten schildern. So konnte ich die Vergewaltigung seelisch verarbeiten. Doch ich spürte, dass auch mein Körper Hilfe braucht. Mein Boxlehrer, mit dem ich schon eine Zeit lang trainierte, bot auch Kurse in Selbstverteidigung an. Er kannte meine Geschichte und erklärte sich bereit, mit mir zu arbeiten. Wenn er mich im Training angriff, bekam ich am Anfang oft Flashbacks. Doch er konnte mich gut zurückholen, irgendwann ließ die Panik nach. Mein Körper schüttelte das Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein, ab. Heute weiß ich, dass ich mich wehren kann.“