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Mehr Bürgerbeteiligung, gelebte Demokratie und das Gefühl, etwas bewirken zu können: Die Idee der Bürgerräte klingt hoffnungsvoll in einer Zeit, in der autokratische Herrschaftssysteme weltweit Aufwind erleben und laut Umfragen zwei von drei Deutschen unzufrieden mit der Demokratie sind. Der Bundestag hatte im vergangenen Jahr erstmals einen Bürgerrat zur Ernährung ins Leben gerufen. Am Donnerstag (14. März 2024) wird erstmals über die Empfehlungen des Gremiums debattiert.

Ungesunde Ernährung ist für 18 Prozent der Todesfälle verantwortlich

Im vergangenen Sommer hatte die Bundesregierung den Bürgerrat eingesetzt, der Empfehlungen zur Ernährungspolitik erarbeiten sollte. 160 zufällig ausgeloste Personen, die den Querschnitt der Bevölkerung abbilden im Hinblick auf Alter, Geschlecht, regionale Herkunft und Bildung, diskutierten über Fragen wie: „Brauchen wir eine Zuckersteuer für Softdrinks?“, „Wie gelingt es, Kinder gesünder zu ernähren?“ oder „Was hilft gegen Lebensmittelverschwendung?“

Tatsächlich besteht in Sachen Ernährung politischer Handlungsbedarf. Hochverarbeitete, ungesunde Produkte dominieren immer stärker unser Essen. Die gesamtgesellschaftlichen Kosten durch Adipositas be­liefen sich laut einer Studie von 2015 auf 63 Milliarden Euro pro Jahr. Rund 20 Prozent der Kinder gelten als übergewichtig, und Typ-2-Diabetes breitet sich epidemie­artig aus. Ungesunde Ernährung ist in Deutschland für rund 18 Prozent aller Todesfälle verantwortlich.

Bürgerrat diskutierte Empfehlungen zur Ernährung

Der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ sollte nun Erkenntnisse liefern, welche Reformen Bürgerinnen und Bürger in Sachen ­Ernährung von der Politik erwarten. Im Ja­nuar stimmte der Rat nach umfangreichen Beratungen und unterstützt durch ein Expertengremium in Berlin über seine finalen Empfehlungen ab.

Als Vorbild in Sachen Bürgerbeteiligung dient Irland. Hier unterbreiteten Bürgergremien Vorschläge zu hochumstrittenen Themen wie Ehe für alle und Abtreibungsrecht. Kritik am Bürgerrat gibt es vonseiten der AfD und der Union. Beide Parteien lehnen ein solches Gremium als Möglichkeit der Bürgerbeteiligung ab. Bürgerrat Joseph Heiß aus Garmisch-Partenkirchen sieht das anders: „Die Idee, die Bürger in wichtige Entscheidungen einzubinden, ist wichtig, gerade beim Thema Ernährung, denn das betrifft uns alle“, findet er. „Auch wenn wir mitunter hitzig debattiert haben, war die Atmo­sphäre doch immer konstruktiv.“

Das sagen die Bürgerräte

Zuckersteuer im Bürgerrat umstritten

Besonders kontrovers debattierte der Bürgerrat die Frage einer Zuckersteuer. „In anderen Ländern brachte es nicht den gewünschten Effekt“, sagt etwa Bürgerrat Michael Kram. Eine andere Teilnehmerin war für ­eine Besteuerung von Zucker in Softdrinks, aber gegen eine höhere Steuer auf Gelierzucker. Es wurde um Formulierungen gefeilscht, um Mehrheiten gerungen. Dabei wurde klar, dass es in einer Demokratie eben nicht darum geht, die eigene poli­tische Überzeugung durchzusetzen, sondern darum, Vorschläge zu erarbeiten, für die sich Mehrheiten finden lassen.

Große Mehrheit für Gratis-Essen in Schulen und Kitas

Die größte Mehrheit im Bürgerrat erhielt mit fast 88 Prozent Zustimmung der Vorschlag eines kostenfreien Mittagessens in Schulen und Kitas. Der Finanzierungsbedarf liegt bei jährlich rund fünf Milliarden Euro. Der Bund soll sich nach den Empfehlungen des Rates an der Finanzierung, die eigentlich Ländersache ist, beteiligen. Hierfür sollen Mittel für eine künftige Kindergelderhöhung umgewandelt werden. Ernährungsfachleute begrüßen den Vorschlag als Basis für eine gesunde Entwicklung von Kindern. Ebenso stößt die Empfehlung des Rates, die Mehrwertsteuersätze für Lebensmittel anzupassen, auf breite Zustimmung.

Das empfiehlt der Bürgerrat

1. Jedes Kind an Kitas und Schulen soll täglich ein kostenfreies, gesundes Mittagessen erhalten. Um die Maßnahme zu finanzieren, schlägt der Rat vor, Geld für künftige Kindergelderhöhungen umzuwandeln.

2. Produkte, die in Deutschland verkauft werden, sollen ein Pflichtlabel erhalten. Dieses soll Gesundheits-, Klima- und Tierwohl­aspekte des Produktes transparent darstellen.

3. Supermärkte sollen verpflichtet werden, noch genießbare Pro­dukte nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums zu spenden und sie nicht wegzuwerfen.

4. Fleischwaren sollen verpflichtend ein Tierwohllabel erhalten. Es soll deutlich erkennbar machen, unter welchen Bedingungen die Tiere gelebt haben und wo sie herkamen.

5. Für Obst und Gemüse in Bioqualität soll die Mehrwertsteuer von sieben auf null Prozent gesenkt werden. Auch für Nüsse, Vollkorngetreide oder Hülsenfrüchte soll das gelten. Ebenso für Fleischersatzprodukte und Fleisch aus artgerechter Haltung. Im Gegensatz dazu soll die Mehrwertsteuer auf Zucker von 7 auf 19 Prozent erhöht werden. Die Umgestaltung der Mehrwertsteuer macht gesundes Essen aus Sicht der Bürgerräte günstiger.

6. Essen in Pflegeheimen und Kliniken soll gesünder werden, und Einrichtungen sollen verpflichtet werden, die Standards der Deutschen Gesellschaft für ­Ernährung einzuhalten.

Wenig Konkretes in Ernährungsstrategie der Bundesregierung

„Die steuerliche Entlastung von gesunden Lebensmitteln wie Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten und eine höhere Besteuerung von Zucker machen die gesunde Wahl zur einfacheren Wahl“, sagt die Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft in Berlin, Barbara Bitzer. Sie fordert: „Die wichtigen und richtigen Empfehlungen des Bürgerrates dürfen jetzt nicht zu einem weiteren geduldigen Papiertiger werden.“

Bitzers Befürchtung scheint nicht ganz unbegründet zu sein. Die Ernährungsstrategie, die die Bundesregierung unlängst vorstellte, enthielt wenig Konkretes. Von einer Umgestaltung der Mehrwertsteuer bei Lebensmitteln oder Finanzierungsvorschlägen für ein kostenfreies Kita-Essen war nichts zu lesen. „Durch seine Empfehlungen hat der Bürgerrat wichtige Impulse für unsere parlamenta­rische Arbeit ge­geben“, findet hingegen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). „Mit diesen Empfehlungen sollten sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag intensiv beschäftigen.“