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Im vergangenen Sommer berichteten Kliniken aus der ganzen Welt, dass es bis zu 90 Prozent weniger Frühgeborene während des ersten Corona-Lockdowns gab. Haben Sie das in Berlin auch beobachtet?

Dr. Schlembach: Tatsächlich haben wir das nicht feststellen können. Auch eine informelle Umfrage von uns an anderen Kliniken ergab, dass die Frühchen­zahlen in Berlin nicht abgenommen haben. Im Dezember hat die Frauen­klinik in Jena eine Analyse ihrer Daten ver­öffentlicht: Es zeigte sich während des Lockdowns ebenfalls kein Rückgang an Geburten vor der 37. Schwangerschaftswoche. Die Jenaer Arbeitsgruppe plant nun eine bundesweite Auswertung, das dauert noch. Aber ver­mutlich hatte der coronabedingte Lockdown bei uns keine Auswirkungen.

Unser Experte: Dr. Dietmar Schlembach ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedi­zin sowie Chefarzt der Geburtshilfe am Vivantes-Klinikum in Berlin-Neukölln

In den USA, den Niederlanden, Ir­land oder Dänemark gab es Rück­gänge, aber nicht in Deutschland: Wie er­klären Sie den Unterschied?

Dr. Schlembach: Ich denke, es liegt an der Betreuung während der Schwangerschaft. In Deutschland werden Schwangere im Vergleich zu anderen Ländern sehr engmaschig überwacht. In den USA beispielsweise ist eine Schwangere viel weniger durch Mutterschutzrichtlinien geschützt. So manche hätte bis zur Geburt arbeiten müssen. Vielleicht hatten einige Frauen weniger Stress und konnten dadurch eine Frühgeburt vermeiden, weil sie während des Lockdowns zu Hause saßen und eventuell auch nicht mehr körperlich tätig sein mussten. Aber das ist Spekulation. Zudem sind viele Daten nicht eins zu eins vergleichbar.

Warum nicht?

Dr. Schlembach: In einer irischen Publikation wurde von einem Rückgang von Geburten mit extrem niedrigem Geburtsgewicht berichtet. Die Schwangerschaftswoche, die ja für die Definition einer Frühgeburt entscheidend ist, stand hier zunächst nicht im Vordergrund. Das heißt: Ein zu kleines Kind kann auch nach der 37. Woche geboren worden sein. Genau genommen ist es somit kein „Frühchen“, aber in der Studie zählt es als eines. Diese Daten darf man also nicht mit unseren vergleichen. In den anderen Ländern aber ist der nachgewiesene Effekt wohl auf den gesunkenen Stress zurückzuführen. Das sind mehr Vermutungen als Fakten.

Wird das Phänomen weiter systematisch erforscht?

Dr. Schlembach: Es lässt sich noch keine finale Aussage treffen. Es existieren ein paar vage Beobachtungsstudien, die nur bedingt aus­sagekräftig sind. Ganz interessant ist dagegen eine Arbeit aus Kanada: Sie hat zwei kanadische Geburtszentren mit einem chinesischen Zentrum verglichen. In keinem der Häuser konnte aufgrund des Lockdowns ein Unterschied festgestellt werden. Aktuell wissen wir also nur: In manchen Gesundheitssystemen, wie etwa dem US-amerikanischen, scheint es den Frauen zu helfen, wenn sie nicht so lange arbeiten müssen. Sind die Frauen schon gut geschützt, wirkte sich der Lockdown nicht auf die Frühgeburten-Rate aus.

Wie hoch ist die Frühchen-Rate bei uns im Durchschnitt?

Dr. Schlembach: Wir sind immer bei etwa acht Prozent Frühgeburten in Deutschland. Damit liegen wir am oberen Ende in Europa. Auch dafür gibt es keine abschließende Erklärung. Ein Grund könnte sein: Die Grenze zur Lebensfähigkeit verschiebt sich immer weiter nach vorne, mittlerweile sind wir bei 22 bis 23 Wochen. Babys, die dann zur Welt kommen, zählen bei uns als Frühgeburt. In anderen Ländern gelten diese Kinder – wenn sie nicht überleben – als Fehlgeburt und zählen nicht in der Statistik. Die Zahl schwankt kaum, Corona an sich kann aber tatsächlich ein Grund für eine Frühgeburt sein.

Wie meinen Sie das?

Dr. Schlembach: Wir wissen: Bei Schwangeren, die sich mit dem Coronavirus infizieren, verläuft die Erkrankung oft heftiger, sie haben mehr Probleme als Nicht-Schwangere. Unter Umständen müssen wir wegen der Komplikationen entbinden, damit die Frau auf der Intensivstation entsprechend behandelt und zum Beispiel auf dem Bauch liegend beatmet werden kann. Wir hatten eine Patientin, die nach der Entbindung in der 28. Woche vier bis fünf Wochen im künstlichen Koma lag, angeschlossen an ein Beatmungsgerät. Mutter und Kind haben überlebt, aber es war dramatisch. Insgesamt haben wir an unserer Klinik schon etwa 70 bis 100 Schwangere versorgt, die sich mit Corona infiziert hatten.

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Was bedeutet das für die Babys?

Dr. Schlembach: Eine Frühgeburt ist immer kompliziert. Covid-19 an sich macht den Babys zum Glück wenig aus, sie sind geschützt. Eine schwangere Corona-Infizierte entwickelt aber schneller Komplikationen wie Bluthochdruck oder eine Prä­­eklamp­sie. Oder das Kind wächst nicht mehr, wie es sollte, was ebenfalls zu einer früheren Geburt führen kann. So gesehen wirkt sich Corona schon auf die Frühchen-Rate aus: Die Infektion begünstigt Frühgeburten.

Was raten Sie Frauen, um diese Gefahr möglichst zu minimieren?

Dr. Schlembach: Behandeln wir bei Risikoschwangeren Komplikationen durch Corona, ist da immer der Gedanke: „Das hätte man mit zwei Piksen verhindern können.“ Schwangere sollten sich impfen lassen. Das empfiehlt jetzt auch die STIKO.

Was können Schwangere noch tun, damit ihr Kind möglichst lange im Bauch bleibt?

Dr. Schlembach: Auch wenn es schwerfällt: Zigaretten am besten weglassen. Rauchen ist der größte Risikofaktor in der Schwangerschaft, den es gibt. Starkes Übergewicht spielt auch eine Rolle. Das sind Faktoren, die sich beeinflussen lassen. Manchmal ist eine zu engmaschige medizinische Überwachung problematisch. Wenn Schwangere pro Woche zu drei verschiedenen Ärzten gehen, bedeutet das auch Stress. Sie sollten da, wo es geht, fünf gerade sein lassen. Ärzten rate ich, sich auch untereinander gut abzustimmen.

Stress sollte also, das zeigt auch das Lockdown-Phänomen, so gut es geht vermieden werden?

Dr. Schlembach: Das mit dem Stress ist ja so eine Sache. Was für die eine Frau maximale Belastung bedeutet, findet eine andere unkompliziert. Man darf sich vor allem nicht unter Druck setzen. Natürlich sollten Schwangere auf Ruhe und Schonung achten, aber nicht zwanghaft. Hauptsache, die Frau fühlt sich wohl.

Macht es einen Unterschied, ob eine werdende Mutter psychischen oder körperlichen Stress hat?

Dr. Schlembach: Das ist schwer zu sagen. Natürlich ist körperlicher Stress am ungünstigsten, aber auch da muss man unterscheiden: Es macht wohl weniger aus, wenn eine schwangere Frau von ihrem Kleinkind gefordert ist, als wenn sie in der Arbeit körperlich tätig ist. Psychischer Stress ist vor allem für Frauen ein Thema, die in der Vergangenheit schon eine Frühgeburt hatten: Sie hören viel intensiver in ihren Bauch und bekommen Angst, wenn sie ein Symptom bemerken, das sie sonst vielleicht nicht beachtet hätten.

Kann man ihnen die Angst nehmen?

Dr. Schlembach: Eine psychologische Mitbetreuung hilft viel. In solchen Fällen ist es wichtig, dass der Arzt oder die Ärztin und gegebenenfalls eine Psychologin oder ein Psychologe gemeinsam mit der Frau überlegen, was ihr wieder Sicherheit gibt. Hatte eine Frau zum Beispiel in der 28. Woche eine spontane Frühgeburt, wird sie in der 28. Woche der neuen Schwangerschaft vielleicht große Angst haben. Dann kann man sie auch mal ein, zwei Tage im Krankenhaus betreuen, damit sie danach wieder beruhigt nach Hause kann.

Ist eine Frühgeburt immer ein Grund zur Sorge oder gibt es Ausnahmen?

Dr. Schlembach: Je später das Baby kommt, desto weni­ger Probleme hat es und desto höher ist seine Überlebenschance. Im Einzelfall kann es natürlich Komplikationen geben, aber ab der 28. Woche überleben fast alle Frühchen – die meisten ohne größere Probleme. In der 37. Woche gilt ein Kind zum Beispiel noch als Frühgeburt, aber es wird sehr wahrscheinlich bei der Mutter bleiben. Es hat vielleicht ein paar Anpassungsstörungen oder Gelbsucht, die Eltern müssen sich aber nicht groß sorgen.

Hat sich die Versorgung der Frühchen durch Corona verändert?

Dr. Schlembach: Anfangs gab es Einschränkungen. So durfte sich bei uns zeitweise nur ein Elternteil auf der neonatologischen Intensivstation aufhalten – oder beide nur abwechselnd. Aber es war nicht so, dass der Körperkontakt unterbunden wurde. Andere Länder oder Kliniken haben das oft strenger gehandhabt.

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