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Nach ein paar Wochen drehte Familie N. den Spieß einfach um: Nicht mehr die schlechten Tage wurden im Schmerztagebuch notiert, sondern die, an denen es Lisa* gut ging. „Wir klebten dann immer Smileys in das Buch“, erzählt Mutter Angelika N.* „Es tat uns und vor allem Lisa gut, sich aufs Positive und nicht aufs Negative zu konzentrieren.“

Zwei Jahre ist das ungefähr her. Zu diesem Zeitpunkt klagte die heute Neunjährige oft über extreme Kopfschmerzen, manchmal übergab sie sich. Auf jeden Kopfschmerz-Tag folgte zudem mindestens ein „Katertag“, wie Angelika N. die Phasen nennt, in denen ihre Tochter durchhing. Damals ahnten die Eltern bereits, dass ihr Kind an Migräne leiden könnte. „Richtig klar wurde das aber erst mit dem Schmerztagebuch“, erinnert sich Angelika N.

Migräne wird bei Kindern häufig spät erkannt

Migräne gilt als häufige Erkrankung im Kindesalter. Laut Dr. Michaela Bonfert, die in München am Dr. von Haunerschen Kinderspital das Pädiatrische Kopfschmerzzentrum leitet, ist bis zu jedes zehnte Kind davon betroffen. „Trotzdem wird sie häufig erst spät erkannt“, sagt die Medizinerin.

Denn Migräne entwickle sich oft über die Zeit, zeige sich anfangs in vielen Fällen erst selten und noch nicht so ausgeprägt. Zudem klagen gerade kleinere Patientinnen und Patienten nicht unbedingt über Kopf-, sondern zum Beispiel über Bauchschmerzen, so die Expertin. Ob sie den Schmerz nicht richtig deuten würden oder ob er sich im noch nicht fertig entwickelten Gehirn tatsächlich anders zeige, sei dabei nicht ganz klar.

„Wenn die Kinder dann spucken, denken Eltern, dass es einfach ein Infekt ist“, sagt Dr. Kristina Huß, Oberärztin im Pädiatrischen Kopfschmerzzentrum. Hinzu komme, dass Migräne oft immer noch bagatellisiert werde. „Das sollte sie absolut nicht“, so Huß. Denn zum einen schränken häufige Attacken den Alltag und die Lebensqualität der Kinder drastisch ein, zum anderen könne Migräne chronisch werden.

„Ich habe erst gedacht, dass sie in der Schule vielleicht zu wenig trinkt.“

Migräne kann bei Kindern andere Symptome zeigen

Lange war unbekannt, warum manche Menschen an Migräne leiden und andere nicht. Aktuell seien an die 40 Gene bekannt, die Einfluss auf die Stellschrauben für eine Migräne hätten, erklärt ­Michaela Bonfert. Der genetische Aspekt könne auch der Grund dafür sein, dass es familiäre Häufungen gibt.

Bei Lisa dauerte es zwei Jahre, bis sie ihre Diagnose erhielt. Das Mädchen ist hochbegabt, kam mit fünf Jahren in die Schule, wechselte nach drei Monaten von der ersten in die zweite Klasse. Fast zeitgleich traten die Kopfschmerzen auf. „Unser damaliger Kinderarzt vermutete eine schulische Überforderung als Grund“, erzählt Angelika N., die mit ihrer Familie in Sulzemoos bei München lebt. „Ich selbst habe erst gedacht, dass sie in der Schule vielleicht zu wenig trinkt.“

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Kamen Attacken zunächst sporadisch und schwächer daher, wurden die Kopfschmerzen mit der Zeit regelmäßiger und heftiger, pochend bis stechend auf beiden Seiten – die Migräne zeigte sich bei Lisa anders als bei Erwachsenen. Da tritt sie oft nur einseitig auf, die Kopfschmerzphasen dauern meist länger. Lärm- oder Lichtempfindlichkeit, die bei Erwachsenen typisch sind, können bei Kindern fehlen. „Das ist schlimm, wenn man merkt, dass es dem Kind nicht gut geht, und man den Grund nicht kennt“, sagt Angelika N. Sie erinnert sich, wie Lisa sich immer mehr „einigelte“, nicht mehr zu Freunden ging und schon gar nicht woanders übernachtete. „Sie hatte große Angst vor den Schmerzen.“

Therapie soll normales Leben möglich machen

Kristina Huß, die Lisa mit sieben Jahren schließlich am integrierten Sozialpädiatrischen Zentrum des Dr. von Haunerschen Kinderspitals aufnahm, kennt viele solcher Geschichten: „Das ist das Gemeine an der Migräne. Sie hindert daran, zum Beispiel zum Kindergarten- oder Schulfest zu gehen oder zur Übernachtungsparty bei Freunden.“ Das wichtigste Ziel der Therapie sei deshalb, dass die Kinder ihren Alltag schmerzfrei schaffen – und so normal wie möglich am Leben teilhaben können.

Das Schmerztagebuch war einer der ersten Bausteine der Therapie. Es sollte nicht nur zeigen, wie häufig Lisa Schmerzen hat, sondern auch, wann sie diese hat, um mögliche Auslöser identifizieren zu können. Es fand sich aber kein eindeutiger. Ebenfalls gleich am Anfang ging es um ihren Schlaf und ihre Ernährung, um Stress- und Erholungsphasen, Sport und Medienkonsum. „Das sind Lebensstilfaktoren, die eine Migräne gerade bei Kindern stark beeinflussen können“, erläutert Bonfert. Mitunter lösten so banale Dinge wie eine geringe Trinkmenge oder fehlender Schlaf die Attacken aus. Manchmal reiche es schon, hier etwas zu verändern.

Im Ernstfall hilft eine Behandlung mit Schmerzmittel

Lisa bekam von Kristina Huß eine Stunde mehr Schlaf verordnet – sie muss innerhalb der Woche nun um 19 statt um 20 Uhr ins Bett. Zudem empfahl Huß mehr Bewegung, weshalb die Neunjährige jetzt tanzt, klettert und schwimmt. Hinzu kommen eine Physio- und eine spezielle Magnetstimulationstherapie. Sie sollen Verspannungen im Nacken-Schulter-Bereich lösen, die eine Migräne ebenfalls triggern könnten. „Lisas Migräne ist deutlich besser geworden, weg ist sie jedoch nicht“, sagt Angelika N. Deshalb hat das Mädchen immer ein Schmerzmittel für den Ernstfall griffbereit.

„Es gilt, die Attacken frühzeitig zu unterbrechen – in der Regel reicht dafür Ibuprofen“, erklärt Kristina Huß. Azetylsalizylsäure (ASS) ist für Kinder unter zwölf Jahren nicht geeignet, weil der Wirkstoff bei ihnen in Einzelfällen gefährliche Gesundheitskomplikationen auslösen kann. „Es ist wichtig, mit den Kindern genau zu schauen, wie sich Attacken zeigen, und vor allem, wie sie beginnen“, betont Kristina Huß. Oft kündigen Symptome wie Blassheit, Stimmungsschwankungen oder Heißhunger einen Migräne-Schub an. „Im besten Fall sind die Kinder irgendwann so geschult darin, die Vorzeichen zu erkennen, dass sie nicht einmal mehr Medikamente benötigen, sondern einfach das machen, was ihnen dann guttut – sich zum Beispiel zurückziehen, sich hinlegen, die Augen schließen, schlafen.“

Es ist wichtig, mit den Kindern genau zu schauen, wie sich Attacken zeigen, und vor allem, wie sie beginnen.

Wann ist Therapie in speziellen Zentren sinnvoll?

Kinderärztin Michaela Bonfert spricht von „Psychoedukation“: Die Kinder müssten lernen, was eine Migräne ist, was in ihrem Kopf passiert und was sie für sich tun können. Im integrierten Sozialpädiatrischen Zentrum arbeiten deshalb nicht nur Ärztinnen und Physiotherapeuten mit den Kindern, sondern auch Psychologen und Psychologinnen. Arzneien zur Vorbeugung gegen Schmerzanfälle ­werden bei Kindern dagegen eher zurückhaltend eingesetzt, etwa wenn diese Anfälle sehr häufig auftreten oder das Kind oft im Unterricht fehlt.

Nicht alle Kinder mit Migräne oder Verdacht darauf müssen in speziellen Zentren behandelt werden. „Eine Migräne, die gut mit Medikamenten zu kontrollieren, also zu unterbrechen ist, nur selten auftritt und das Kind nicht in seiner Teilhabe am ganz normalen Leben hindert, kann in der Regel sehr gut von niedergelassenen Kinderärztinnen oder -ärzten versorgt werden“, erklärt Bonfert. Anders sei es, wenn sich das Leiden sehr häufig zeige und Medikamente wie Ibuprofen nicht mehr ausreichten. „In der Regel genügt dann ein halbes Jahr, in dem wir mit den Kindern und Familien ambulant arbeiten. Dies geschieht immer im engen Austausch mit den Kinderarztpraxen“, so Bonfert. Dort könne dann die Versorgung im Anschluss wieder fortgeführt werden.

Angelika N. hofft, dass sich die Migräne von Lisa verwächst. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht: Bei ungefähr der Hälfte der Betroffenen, die als Kind an ­Migräne leiden, verschwindet sie bis zur Pubertät.

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Mein Migräne-Gehirn

Redakteurin Nadja Katzenberger hat seit vielen Jahren Migräne. Was sie über die Krankheit gelernt hat und wie sie heute damit lebt zum Artikel

* Name von der Redaktion geändert


Quellen:

  • Bonfert MV, Landgraf MN, Mathonia N et al. : Primäre Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen – Update 2019. In: Pädiatrie up2date 01.01.2019, 14: 71-85
  • MigräneLiga e.V. : Kopfschmerzen bei Kindern. https://www.migraeneliga.de/... (Abgerufen am 30.01.2024)
  • Schmerzklinik Kiel : Wie wird Migräne bei Kindern behandelt?. https://schmerzklinik.de/... (Abgerufen am 30.01.2024)