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Wir haben Prof. Dr. Jon Genuneit gefragt, was für eine optimale Stillförderung nötig wäre. Der Arzt und Pädiatrische Epidemiologe arbeitet an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Leipzig.

Herr Genuneit, Gesundheitsversprechen auf Säuglingsnahrung werden kritisch gesehen, denn sie könnten dazu verleiten, dem Muttermilchersatz den Vorzug zu geben. Sie haben die Angaben auf Säuglingsnahrung in 15 Ländern untersucht. Was war das Ergebnis?

Jon Genuneit: Auf mehr als 600 Produkten – von insgesamt knapp über 750 untersuchten – werden Gesundheitsversprechen gemacht. Und oft nicht nur eines, sondern mehrere. Aber nur bei jedem vierten Produkt waren diese Versprechen auch wissenschaftlich untermauert. Und davon nur knapp jedes sechste durch eine begutachtete Studie.

Wie bewerten Sie das?

Wir müssen solche Aussagen anzweifeln, zumal sie auch stark verkürzt und sehr allgemein sind. Dazu kommt: Mehr als 80 Prozent dieser Studien wurden von Fachleuten durchgeführt, die von der Nahrungsmittelindustrie finanziert oder direkt mit ihr verbunden waren. Sie sind also nicht unabhängig.

Sie als Wissenschaftler kennen sich gut aus. Aber wie sollen Mütter und Väter das einordnen?

Das können sie nicht. Nehmen Sie zum Beispiel die Aussage: „Unterstützt die Entwicklung des Nervensystems.“ Das klingt erst einmal positiv. Mehr noch: Die Leute stufen den Ersatz womöglich als besser ein als das Original. Das ist er aber ja nicht. Stillen ist und bleibt das Beste für Mutter und Kind.

Wie müsste es denn ganz korrekt und verständlich heißen?

„Dieses Produkt ist in einigen Bestandteilen der Muttermilch nachempfunden, sodass es annähernd so gut wie Muttermilch die Entwicklung des Nervensystems unterstützt.“

Erschreckend, wie leicht verkürzte Angaben in die Irre führen. Ihre Studie untersuchte weltweit Ersatz­milch. Gilt die Kritik für Deutschland genauso?

In Deutschland sind Gesundheitsversprechen, die sich auf die Entwicklung und Gesundheit von Kindern beziehen, streng reguliert. Die europaweit geltende Health-Claims-Verordnung verlangt, dass jede Angabe einzeln beantragt und ausdrücklich erlaubt wird. Für Säuglingsanfangsnahrung, also die Ersatzmilch unmittelbar ab der Geburt, sind sie gar nicht zugelassen.

Für Folgemilch aber schon. Und im Supermarktregal stehen Anfangs- und Folgenahrung unmittelbar nebeneinander, sehen sich zudem sehr ähnlich …

… und natürlich beziehen Verbraucher das Versprechen der Folgemilch unweigerlich auch auf die Anfangsmilch. Das positive Image des einen färbt auf das ähnliche Produkt ab.

Zufall?

Eher nicht. Werbefachleute nutzen diesen Effekt schon ganz bewusst.

Laut WHO werden weltweit nur 44 Prozent der Babys unter sechs Monaten ausschließlich gestillt. Die Stillraten sind in den letzten 20 Jahren kaum gestiegen, der Verkauf von Säuglingsnahrung hat sich im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt. Ein Werbeeffekt?

Davon ist auszugehen. Eine Studie der WHO und des Kinderhilfswerks UNICEF hat gerade die Werbepraktiken für Flaschennahrung untersucht und sie als inakzeptabel allgegenwärtig, irreführend und aggressiv eingestuft.

Was heißt das konkret?

Hersteller sammeln zum Beispiel online die Kontaktdaten von Schwangeren, betreiben digitale Baby-Clubs und bieten teilweise 24/7-Hotlines an. Damit sind sie in einem intensiven Austausch mit Schwangeren und jungen Familien.

Nun war Deutschland nicht Teil Ihrer Studie. Diese Praktiken findet man aber doch auch bei uns.

Richtig. Und die Studie zeigte daneben auch: Je häufiger Frauen eine Werbung wahrnehmen, desto positiver ist ihre Einstellung zu dieser Säuglingsnahrung.

Wie können Frauen und junge Familien sich dagegen schützen?

Sie müssen sich klarmachen: Hinter Herstellerinformationen steht immer auch ein Verkaufsinteresse. Die besse­­­ren – weil neutralen – Informationsquellen sind etwa das Netzwerk „Gesund ins Leben“ oder die Bundes­zentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Oft richtet sich die Werbung auch an Gesundheitsfachkräfte.

Das ist besonders schwierig. Denn wenn Kinderkrankenschwestern oder Hebammen überzeugt sind, dass ein Produkt gut ist, haben sie auch weniger Bedenken, zum Ersatz zu greifen. Sie begleiten die Frauen nach der Geburt. Und aus falscher Rücksicht auf die Mutter, die ja auch Ruhe braucht, beruhigen sie das schreiende Baby auch mal mit einer Flasche. In Kliniken mit dem Label „babyfreundlich“ erfahren die Frauen mehr Unterstützung, aber davon gibt es zu wenige in Deutschland.

Damit bleibt die Werbung ein Ärgernis. Wie verträgt die sich dann mit dem WHO-Kodex zur Vermarktung von Muttermilch­ersatzprodukten?

Ein klarer Verstoß, das prangert auch die WHO an. Denn der Kodex verbietet, dass Frauen durch das Marketing für Muttermilchersatz vom Stillen abgehalten werden. Er hat aber nur den Status einer moralischen Empfehlung.

In Deutschland ist einiges davon in geltendes Recht umgesetzt.

Gratisproben, Rabatte für Anfangsnahrung und Werbegeschenke in Wartezimmern sind verboten, Gesundheitsversprechen nur eingeschränkt erlaubt.

Wünschen Sie sich darüber hinaus strengere Regeln für die Vermarktung von Ersatznahrung?

Nein. Vergleichbar stark greifen Gesetze sonst nur in die Vermarktung von Tabakprodukten ein. Hier haben manche europäischen Länder schon die Einheitsverpackung ohne Markenlogo eingeführt. So weit würde ich beim Muttermilchersatz nicht gehen. Es ist ja kein schädliches Produkt. Wenn Stillen unmöglich ist, kann Ersatz­milch Kinderleben retten. Es ist gut, dass wir sie haben. Aber ich betone nochmals: Besser als Muttermilch ist sie nicht.

Ob im Supermarkt oder in der Drogerie, Babynahrung ist bei uns praktisch überall verfügbar. Hat das Einfluss auf das Stillverhalten?

Sicher. Das senkt die Hemmschwelle, zur Flaschennahrung zu greifen, zumal sie auch einigermaßen bezahlbar ist. Das suggeriert doch: Es ist vollkommen legitim, sie zu nehmen. Das machen alle. Was wir deshalb auf jeden Fall brauchen, ist noch mehr Aufklärung in der Bevölkerung.

Klingt nach einem Luxusproblem, wenn man es mit Ländern des globalen Südens vergleicht. Dort stehen Leben auf dem Spiel, wenn eine Frau die Flaschennahrung mit verschmutztem Wasser zubereitet.

Der WHO-Kodex zum Schutz des Stillens gilt weltweit. Aber die WHO ist eben keine Regulierungsbehörde. Den Kodex zu unterzeichnen ist leicht – und die Hersteller erkennen den auch an. Die Frage ist: Wann werden Mütter vom Stillen abgehalten? Das muss in diesen Ländern stärker reguliert werden. Und wenn ein Hersteller davon abweicht, muss das konsequent geahndet werden.

Entspannt stillen? Kann bisschen dauern, bis das klappt. Ein paar Tipps helfen.

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Quellen:

  • Cheung KY, Petrou L, Helfer B, et al: Health and nutrition claims for infant formula: international cross sectional survey. https://www.bmj.com/... (Abgerufen am 28.07.2023)
  • WHO: How the marketing of formula milk influences our decisions on infant feeding. https://www.who.int/... (Abgerufen am 28.07.2023)
  • Europäische Union: Verordnung (EG)NR. 1924/2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben bei Lebensmitteln , ( Health Claims Verordnung). https://eur-lex.europa.eu/... (Abgerufen am 28.07.2023)
  • Europäische Union: Delegierte Verordnung (EU) 2016/127 der Kommission vom 25. September 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die besonderen Zusammensetzungs- und Informationsanforderungen für Säuglingsanfangsnahrung und Folgenahrung und hinsichtlich der Informationen, die bezüglich der Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern bereitzustellen sind . https://eur-lex.europa.eu/... (Abgerufen am 28.07.2023)
  • Initiative BABYFREUNDLICH: BABYFREUNDLICH – eine Initiative von WHO und UNICEF. https://www.babyfreundlich.org/... (Abgerufen am 28.07.2023)