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Harmonische Mehrsprachigkeit

Am Küchentisch sagt Mama „milk and honey“, während es in der Kita „Milch und Honig“ heißt. Klingt nach mühelosem Vokabeltraining. Viele Eltern reden mit ihren Kindern deshalb zum Beispiel in Englisch – obwohl es nicht ihre Muttersprache ist. Sie hoffen, dass der Nachwuchs es auf diese Weise spielerisch lernt. Doch so einfach ist das leider nicht. „Das ist wie bei einem Musikinstrument, es braucht viel Übung“, stellt Prof. Dr. Annick De Houwer klar, die seit 45 Jahren gegen Mythen dieser Art kämpft. Sie gilt als Pionierin auf dem Forschungsgebiet des mehrsprachigen Spracherwerbs und ist Direktorin des Netzwerks für Harmonische Mehrsprachigkeit. Sie hält wenig von der geschilderten Art des Fremdsprachengebrauchs im Familienkreis.

Noch gibt es der Wissenschaft Rätsel auf, wie Kinder wirklich Sprache lernen. Schon im Bauch beginnt der Lernprozess. Säuglinge können früh zwischen ihrer Mutter- und einer Fremdsprache unterscheiden. Sogar Babys, die zweisprachig aufwachsen, reagieren auf die verschiedenen Sprachen. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie automatisch später fließend Italienisch oder Spanisch können.

Spracherwerb bildet Grammatikzentrum des Gehirns

Die Fähigkeit sich anderen mitzuteilen, ist hochkomplex. Im Gehirn eines Erwachsenen wird dafür in Bruchteilen einer Sekunde aus ­zigtausend Wörtern der passende Ausdruck herausgefiltert. Dieser Fundus muss sich im Kopf eines Kindes erst einmal aufbauen. „Der Spracherwerb ist eine detektivische Meisterleistung“, erklärt Prof. Dr. Rosemarie Tracy von der Universität Mannheim. „Ein Kind findet zwar in den Äußerungen seiner Umgebung alles dafür Notwendige, muss sich Wortschatz und Grammatik aber selbst aneignen.“ Das Gehirn sei zum Glück bestens darauf vorbereitet, so die Linguistin: „Wenn ich einen neuen Gegenstand zeige und sage, das ist ‚Blubb‘, weiß das Kind, dass ‚Blubb‘ den gesamten Gegenstand und nicht nur dessen Farbe meint.“ Das ist einer von vielen Vorannahmen, die uns helfen, Sprache schnell zu lernen.

Motivieren, ohne Druck zu machen

Eltern sollten dafür zuhause aber nur die Sprachen sprechen, die sie wirklich beherrschen und in denen sie vielfältige Anreize bieten können, rät Tracy: „Sprache soll Spaß machen und nicht zu Stresssituationen führen“. Viele Kinder verstehen nicht, warum sie in einer anderen Sprache sprechen sollen, während Mama mit allen anderen auf Deutsch redet. „Kinder brauchen einen persönlichen Kontext. Nur wenn es eine familiäre Beziehung zu der Fremdsprache gibt, macht es wirklich Sinn“, ­betont auch De Houwer. Dazu kommt: „Nicht jeder, der überzeugt ist, ­perfekt in Französisch oder Italienisch zu sein, bildet stets fehlerfrei Sätze.“ Diese ­Fehler werden an die nächste Generation weitergegeben. Das Sprachniveau muss zudem kindgerecht sein, denn Zwei- oder Dreijährige lernen sehr viel durch Reime und Lieder. „Diese sollten Eltern kennen und richtig können“, erläutert die Forscherin.

Motivation ist das A und O. „Die Kinder müssen es auch wollen, zum Beispiel auf Englisch zu reden“, sagt de Houwer. Dauerhaft dranbleiben sei außerdem wichtig. Selbst wenn Vorschulkinder eine Fremdsprache gut können, muss das nicht so bleiben. „Sie tun das nur, wenn die Notwendigkeit dazu besteht“, weiß die Expertin. Ohne Praxis verliert sich das Wissen.

Fernsehen in Italienisch?

Um die Freude an Fremdsprachen zu wecken, sei es sinnvoller, Kinderbücher in Englisch oder Italienisch vorzulesen, ab dem vierten Lebensjahr altersgerechte Filme in anderer Sprache zu schauen, zu reisen oder das Spielen mit ausländischen Kindern zu fördern. „Das schafft Brücken zu anderen Kulturkreisen“, so De Houwer. Frühkindlicher Fremdsprachenunterricht werde oft überschätzt. Auch wer als Teenager erst Englisch lernt, hat gute Chancen, sich später fließend zu unterhalten.


Quellen: