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Endlich! Nachdem wir gefühlte 5.000 Wohnungen besichtigt und es zu der zweifelhaften Ehre gebracht haben, fast jeden Makler im bayerischen Oberland mit Vornamen zu kennen, ist es uns letztendlich doch gelungen, unsere Traumwohnung zu finden. Es wird also umgezogen, aufs Land. Nie wieder hektische Rushhours und graue Innenhöfe. Dafür Himmel, Platz und ein eigener Garten mit einem alten Apfelbaum. Nur ein Detail scheuert gerade mein Mama-Gewissen wund: Marlene muss die Schule wechseln.

Ob das wirklich ein Trauma für sie werden wird, werde ich spätestens dann feststellen, wenn mir meine Tochter mit Ende Dreißig von ihren psychoanalytischen Therapiesitzungen berichtet. Vielleicht wird sich dann herausstellen, dass der Grundschulwechsel für irgendeine Tauben-Paranoia oder einen Putzzwang verantwortlich ist.

Abschied nehmen vom Kindergarten

Aber mal im Ernst: Wie ist das mit dem Herausreissen eines Kindes aus einer bestehenden Struktur? Aus der Gemeinschaft? Ist das nicht wahnsinnig furchtbar und fies für das Kind? Ganz wohl fühle ich mich ja nicht dabei. Zumal wir das ja schon mal hatten: Mit fünf Jahren hat Marlene den Kindergarten gewechselt. Und das hat mir – so erinnere ich mich – ebenfalls viel Kopfzerbrechen bereitet.
Dabei war es damals aus rationaler Sicht sonnenklar: Der alte Kindergarten ging einfach nicht mehr. Er war zu teuer geworden. Und auch sonst nicht das Gelbe vom Ei. Durch Zufall bekamen wir einen Platz in einer Einrichtung, die all das bot, was die alte nicht hatte: einen Garten, lebenslustige Erzieherinnen, gesundes Essen und bezahlbare Preise. Also alles super, oder? Für mich schon. Doch wie so oft musste ich feststellen, dass Pragmatismus und ein leerer Geldbeutel für kleine Kinder keine besonders zündenden Argumente sind. Für Marlene war ihr alter Kindergarten kein überteuerter Mini-Snob-Verein. Sondern der Ort, an dem die Freunde sind und immer Knetmasse und Stifte rumliegen.

"Wie ... neuer Kindergarten?"

Anfangs war ihr nicht klar, was das zu bedeuten hatte, dieser Wechsel. So abstrakt, so weit weg. Die Abschiedsfeier in der alten Kita fand sie sogar ziemlich cool, weil sich ausnahmsweise mal alles um sie drehte. Zum Ende der großen Ferien sah es aber dann ein bisschen anders aus. Unsicherheit machte sich breit. Wie ... neuer Kindergarten? Was sind das für Kinder? Was, wenn ich das Essen da nicht mag? Haben die auch genug Knetmasse? Am ersten Kindergartentag drückte sich jedenfalls ein ungewöhnlich scheues Kind gegen meinen Oberschenkel. "Kann ich bitte wieder in meinen alten Kindergarten, Mama?"
So. Jetzt hatte ich den Schlamassel. Da brauchte ich gar nicht auf eine Therapie in 30 Jahren warten, mein Kind war jetzt schon völlig fertig. Hatte ich nicht mal von einer Studie gelesen, die besagt, dass Kinder bis fünf Jahre solche Veränderungen total super hinkriegen? Wieso sieht sie mich dann jetzt so an? Das Kind soll mich nicht so ansehen! Sie soll sich auf die neuen Freunde freuen. Und es mir und meinem schlechten Gewissen gefälligst nicht so schwer machen!

Die kindliche Gabe, Freundschaften zu schließen

Das schlechte Gewissen blieb auch noch, nachdem ich mich nach einer gefühlten Ewigkeit von ihr verabschiedet hatte und mir die Erzieherinnen mit hoch gestreckten Daumen aufmunternd zunickten. Nach der Arbeit und einer Million Gewissensbissen hetzte ich sofort wieder zurück in den Kindergarten. Hat sie die ganze Zeit geweint? War sie die Neue, die nicht akzeptiert wurde? War alles ganz schrecklich? Als ich ankam, saß die mit ihrer neuen Freundin Gretha im Baumhaus und ließ mich wissen, dass sie nicht gedenke, in der nächsten halben Stunde herunterzukommen. Man schreibe an einer neuen Geheimsprache. Ich hatte die kindliche Gabe zum ewigen Miteinander – mal wieder – unterschätzt.

Jetzt ist Marlene natürlich noch mal älter. Sie freut sich auf den Umzug. Auch auf die neue Schule, denn so ein wenig Pragmatismus hat auch in ihr Leben Einzug gehalten: endlich keine Ganztagesschule mehr, endlich kein Essen mehr in der Schule, endlich über den Feldweg in zwei Minuten in der Dorfschule sein und nicht mehr über 24 Ampeln müssen. Das alles will sie sehr. Und trotzdem weiß ich, dass es im September verängstigte Augen bei ihr und ein schlechtes Gewissen bei mir geben wird. Ich kann nur hoffen, dass es auch in der neuen Schule eine Gretha geben wird. Aber die gibt es ja hoffentlich immer.