Logo der Apotheken Umschau

In den meisten Bundesländern steht im ersten Quartal des Jahres ein wichtiger Termin für Familien im Kalender: die Schulanmeldung. Spätestens jetzt wird vielen Eltern bewusst, dass sich die Betreuungssituation mit dem Schuleintritt des Kindes drastisch ändern könnte. Sind die Kleinen im Kindergarten vielerorts garantiert bis 16 Uhr betreut, ist das ab der ersten Klasse nicht mehr grundsätzlich gesichert. Es gibt zwar verschiedene Angebote, die eine Betreuung nach Unterrichtsschluss gewährleisten, wie etwa unterschiedliche schulische Ganztagskonzepte, Mittagsbetreuung oder Hort – einen Rechtsanspruch darauf gibt es allerdings bisher nicht. 

So wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit der Einschulung oft zu einer schwer lösbaren Herausforderung für Familien. Das soll sich ändern. Wie das Bundeskabinett beschlossen hat, soll das Angebot von Ganztagsschulen massiv ausgebaut werden. Ab dem Schuljahr 2026/27 soll jedes Kind, das dann eingeschult wird, in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Schule haben, ab August 2029 dann alle Grundschulkinder. Dabei will der Staat sicherstellen, dass Grundschülerinnen und -schüler aller Altersstufen an fünf Tagen in der Woche mindestens acht Stunden betreut werden können.

Es mangelt an Ressourcen

Auf den ersten Blick scheint die Situation gut lösbar zu sein: "Rund 70 Prozent aller Schulen in Deutschland sind als Ganztagsschulen gelistet, auch bei den Grundschulen liegt diese Zahl in etwa so hoch", sagt Stephan Kielblock, Studienkoordinator am Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Allerdings verblasst diese eindrucksvolle Quote, denn der Titel Ganztagsschule bedeutet nicht, dass alle Kinder an so einer Schule ganztags betreut werden. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts aus dem Frühjahr 2020 bestätigt, dass beispielsweise 2017 nur rund 48 Prozent der Grundschulkinder ein Ganztagsangebot nutzen. "Das liegt daran, dass die Schulen nur eine, höchstens zwei Klassen pro Jahrgang anbieten können", so Kielbock.

Die gleiche Studie zeigt aber auch, dass sich 71 Prozent aller Eltern von Grundschülerinnen und -schülern einen Ganztagesplatz für ihr Kind wünschen. Den Autoren der Studie zufolge müsste der Staat damit bis 2025 noch 665.000 zusätzliche Ganztagsplätze schaffen.
Das größte Problem dürfte dabei der Mangel an Personal darstellen. Der Verband Bildung und Erziehung schätzt, dass rund 100.000 pädagogische Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt fehlen – Lehrerpersonal, Sozialpädagoginnen, Erzieher.

Die zweite Hürde: Viele Schulen haben keine geeigneten Räumlichkeiten für den schulischen Ganztag. "Die Klassenzimmer sind in der Regel nüchtern und zweckmäßig eingerichtet. Für den optimalen Ganztag müssen die Zimmer aber so konzipiert sein, dass die Kinder sich darin auch wohlfühlen können", sagt Eva Reiter, Vorsitzende des deutschen Ganztagsschulverbands. "Es braucht Kreativ- und Ruhezonen zum Entspannen und Abschalten." Verbringen Kinder den ganzen Tag in der Schule, so Reiter, müsse diese zum Lebensort werden.

Offenes oder gebundenes Konzept

Zurzeit bieten die meisten Ganztagsschulen ein offenes Ganztagskonzept an. Das heißt, dass vormittags der verpflichtende Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler stattfindet, während die Nachmittagsbetreuung ein freiwilliger Zusatzbaustein ist. Mitunter können Eltern ihre Kinder flexibel abholen, wann sie wollen – auch im laufenden Programm. "So ist es natürlich sehr schwierig, den Ganztagsunterricht pädagogisch sinnvoll zu gestalten", betont Kielblock. Für den Nachmittag könne keine Unterrichtsergänzung eingeplant werden – denn dann würden die anderen Kinder, die nicht nachmittags in der Schule sind oder mittendrin nach Hause gehen, wichtige Inhalte verpassen.

"Die Qualität beim offenen Ganztag variiert auch sehr. In manchen Schulen gestalten externe Dienstleister, Sportvereine oder andere Kooperationspartner das Nachmittagsprogramm. Andere Schulen haben eigene Konzepte entwickelt und eigens dafür pädagogisches Personal eingestellt", erklärt Eva Reiter. Profitieren würden Kinder eher vom Konzept des gebundenen Ganztags, sagt Reiter, die auch Ganztagskoordinatorin an der Hamburger Stadtteilschule Alter Teichweg in Hamburg ist.

Anders als bei der offenen Variante bleiben beim gebundenen Ganztag alle Kinder verbindlich bis nachmittags in der Schule. "Eine echte Verzahnung von Lernelementen, Anspannung und Entspannung gelingt eigentlich nur mit einem gebundenen Ganztag", so Reiter. Doch oftmals sei die Nachfrage nach dem offenen Ganztag höher als die nach dem gebundenen. Eltern schätzten offenbar eine flexible Schulzeit der Kinder, weil sie so berufliche Verpflichtungen besser mit der Familie vereinbaren können.

Verzahnung von Entspannung und Anspannung

Doch profitieren Kinder überhaupt von einem Ganztagsangebot? Tatsächlich ist diese Schulart mehr als 50 Jahre alt und gut erforscht. Und sie scheint für Kinder einige Vorteile zu bieten. Einer davon kann – im gebundenen Ganztag – mehr Zeit und Ruhe für den Stoff sein: "Ein Vormittag ist rasend schnell vorbei. Schon kleine Kinder sollen in der Halbtagsschule sehr viel Wissen in wenigen Stunden in ihre Köpfe bekommen, es herrscht deshalb den ganzen Vormittag Anspannung", berichtet Reiter.

Ziel eines pädagogisch sinnvollen Ganztagesunterrichts ist die sogenannte Verzahnung von Entspannung und Anspannung. Der Tag der Kinder soll einem rhythmisierten Muster folgen, das auf sinnvolle Weise Zeiten des Lernens mit Ruhe und musischen, künstlerischen oder sportlichen Angeboten verbindet.

Ganztagsschüler haben bessere Soft Skills

Tatsächlich scheint diese Art der Beschulung Kindern zu helfen. Der Bildungsforscher Stephan Kielblock hat eines der bekanntesten und längsten deutschen Forschungsprojekte zur Ganztagsschule begleitet. "Bei der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) haben wir rund 15 Jahre Kinder beobachtet, die in Ganztagsschulen gehen", berichtet Kielblock. Die Forschenden verglichen Kinder, die ein ganztägiges Schulangebot besuchten, mit Kindern, die mittags nach Hause gingen. "Ganztagsschüler hatten eine deutlich höhere Motivation, ein besseres Sozialverhalten und ein positiveres Selbstbild. Auch erlebten die Schüler langfristig einen positiveren Schulverlauf – das bedeutet, sie hatten bessere Schulnoten und blieben seltener sitzen", berichtet Kielblock. Allerdings bestätigte die Studie eine Hoffnung nicht: In allgemeinen Leistungstests schnitten die Schüler nicht unbedingt besser ab. Offenbar fördert ein Ganztagsangebot eher die sogenannten Soft Skills. "Man könnte es vereinfacht auch so ausdrücken: Ganztagesschülerinnen und -schüler sind nicht schlauer, aber netter."

Viele Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Pädagogik hegen noch eine weitere Hoffnung in Bezug auf die Ganztagsschule: Sie soll die Bildungsgerechtigkeit verbessern. "Schüler, die zuhause nicht Deutsch sprechen, nicht lernen können und allgemein in einem nicht so förderlichen Umfeld leben, könnten von einer längeren Zeit in der Schule besonders profitieren", sagt Kielblock. Allerdings hat die Studie diesen Vorteil der Ganztagsschule nicht bestätigt.

Das könnte aber auch an der Form und Qualität des Ganztagsunterrichts liegen, der momentan in Deutschland noch die Regel ist: dem offenen Ganztag. Die oben genannten 70 Prozent der Schulen, die Ganztagsunterricht anbieten, tun das in der Mehrzahl mit dieser Form. Ob sich das mit dem Rechtsanspruch ändert, ist unklar.