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Im ersten Lebensjahr meiner Tochter führte ich das Dasein eines Werwolfes. Sobald der Mond am Himmel stand, begann ich in der Wohnung umherzustreifen. In meinem Arm ein nicht schlafen wollendes Kind. Nacht für Nacht heulte ich den Mond an und fragte mich, warum gerade mein Kind ein nachtaktives Säugetier war. Warum sie trotz Tiefschlaf sofort merkte, wenn ich den unverschämten Gedanken hegte, sie vielleicht in ein paar Minuten abzulegen.

Ich stellte mir zu dieser Zeit – und Zeit hatte ich ja, vor allem zwischen zwei und fünf Uhr nachts – viele dieser zermürbenden Fragen. Die frustrierendste aber war: Warum waren die Kinder meiner Rückbildungskurs- und Yoga-Bekanntschaften allesamt sittsame Durchschläfer? Laut Aussagen der Mamas wurden deren Engel nämlich abends mit einem Lächeln im Gesicht ins Bettchen gelegt. Dort schlummerten sie angeblich friedlich ein und wachten morgens mit dem gleichen süßen Lächeln wieder auf. Wie war das möglich, dachte ich mir, während meine nächtlichen Tragerunden bereits als deutliche Vertiefungen im Parkettboden sichtbar wurden.

Selig schlafende Super-Kinder? Alles gelogen!

Es dauerte, bis ich das Unfassbare herausfand: Alles gelogen! Die Augenringe der Muttis mit ihren angeblichen Super-Kindern waren gar nicht das Ergebnis eines missglückten Make-ups, sondern hatten den gleichen Ursprung wie meine. Irgendwann brach nämlich ebenfalls der Werwolf in ihnen durch. Dann wurde wild gezetert über die die kleine Serafina, die offensichtlich seit Wochen ihr erstes Zähnchen bekam und keine Nacht schlafen wollte. Großes Geheule auch über den sonst so selig schlummernden Frederik, der bei jedem Blick auf sein Bettchen einen Herzkasper zu erleiden drohte. Nein, stellte ich in diesem Moment mit einer nicht geringen Menge an Genugtuung fest: Nicht nur mein Kind war ein nachtaktives Alien. Alle Kinder sind Außerirdische, wenn es um die Nachtruhe geht!

Diese Einsicht hat mich sehr getröstet in einer Zeit, in der ich bereits gelernt hatte, im Stehen einzuschlafen ohne umzukippen. Und nicht nur das: In diesem Augenblick war mir der Spruch von dem geteilten und dem halben Leid näher als je zuvor. Diese gefühlte Solidarität gab mir wieder eine gewisse Lockerheit. Erziehungsratgeber zum Thema Schlafen, die ich gerne bei meinen Mondscheinrunden las, verbannte ich komplett aus meiner Wohnung. Ich war zwar nicht viel schlauer geworden. Aber ich hatte plötzlich die Gewissheit, dass der Rhythmus schon kommen würde. Dass ich Marlene und mir und unserer Beziehung einfach vertrauen muss. Und plötzlich klappte es auch mit dem Schlafen.

Einschlaf-Hindernisse: Seekühe und Kinderräuber

Natürlich gab es trotzdem noch Unmengen an unterschiedlichen Einschlaf-Hindernissen. Da war zum Beispiel die Phase, in der Marlene partout nicht einschlafen wollte, ohne vorher allen Gegenständen in der Wohnung Gute Nacht gewünscht zu haben. Oder die, in der unfassbar große Seekühe unter dem Bett ihr Unwesen trieben. Vom bösen Zauberer im Kleiderschrank ganz zu schweigen. Und erst der Kinderräuber, der sich nach Meinung meiner Tochter nachts in unsere Wohnung schleichen würde, um sie zu klauen.

Wir haben immer irgendeinen gütlichen Weg gefunden, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen. Gegen die Räuber gab es einen magischen Zauberspruch, der die Haustür verriegelte. Den Seekühen legten wir einen Apfel unters Bett. Und der böse Zauberer wurde zum liebenswerten Dödel umerzogen, der zu doof war, den Weg aus dem Schrank zu finden.

"Bitte! Noch fünf Minuten!"

Selbst die Phase, in der Marlene nachts anfing, zu mir ins Schlafzimmer zu tippeln, sich neben mich zu legen und mir mit ihrem Hin- und Hergewälze den Schlaf zu rauben, haben wir gut gemeistert. Wir einigten uns: Wenn sie Angst hat in der Nacht und sich alleine fühlt, kann sie gerne zu mir kommen – aber nicht in mein Bett, sondern auf die daneben stehende Couch.

Aber eines Tages war auch das vorbei. Seit sie fünf Jahre alt ist, ist sie die unkomplizierteste Schläferin, die es gibt. Und das sag ich jetzt nicht nur, weil ich auch gerne mal mit meinem selig schlafenden Super-Kind angeben möchte. Kein "Bitte! Noch fünf Minuten!". Sondern ein Mädchen, das sich selbst den Schlafanzug anzieht, um 19 Uhr die Augen reibt und gähnt: "Ich geh’ jetzt ins Bett, Mama, ich bin müde." Keine zehn Sekunden später, und sie schläft tief und fest. Es ist fast unheimlich. Dafür – wie könnte es auch anders sein – haben wir jetzt ein anderes Problem. Nein, eigentlich ist es das gleiche. Nur die Tageszeit hat sich geändert. Wenn ich sie jetzt morgens wecke, höre ich dasselbe, wie früher immer abends: "Bitte! Noch fünf Minuten!"