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Spät am Abend. Die Eltern Eva und Constantin sind gerade schlafen gegangen, als ein gellender Schrei aus dem Kinderzimmer sie hochfahren lässt. Die ­Eltern springen auf und finden ihre zweijährige Tochter Heidi weinend im Bett sitzend – schweiß­ge­badet, heftig atmend und mit rasendem Puls. "Sie ließ sich nicht beruhigen, schlug wild um sich und stieß uns weg. Wenn man nicht weiß, was los ist, muss man sich wirklich zusammenreißen, um nicht selbst panisch zu ­reagieren", berichtet Mutter Eva von diesem ersten seltsamen Vorfall. Er war dann urplötzlich, von ­einer ­Sekunde auf die nächste, wieder vorbei. "Heidi legte sich hin und schlief weiter, als sei nichts gewesen", erzählt die Mutter.

Vielleicht nur ein Albtraum?

Vielleicht nur ein Albtraum, denken die Eltern zuerst. Doch als sich der Spuk an den folgenden Tagen fast zur gleichen Zeit wiederholt, sind Eva und Constantin verunsichert und sprechen mit ihrem Kinder- und Jugendarzt. Der Mediziner kann sie beruhigen: Wahrscheinlich stecke Pavor nocturnus dahinter, so der wissenschaftliche Name für den Nachtschreck.

Mindestens drei bis sechs von hundert Kindern erleben laut offi­ziellen Zahlen nächtliche Angst­attacken. Dr. Stephan Eichholz, pädi­a­tri­scher Oberarzt und Leiter des Kinderschlaflabors am Städtischen Klinikum Dresden, schätzt die tatsächliche Zahl aber wesentlich höher ein: "Da bei vielen Kindern nur wenige Attacken auftreten, werden sie von den Eltern als harmlos eingestuft und nicht erwähnt."

Dr. Stephan Eichholz, pädi­a­tri­scher Oberarzt und Leiter des Kinderschlaflabors am Städtischen Klinikum Dresden

Dr. Stephan Eichholz, pädi­a­tri­scher Oberarzt und Leiter des Kinderschlaflabors am Städtischen Klinikum Dresden

Nur scheinbar wach

Eltern meinen oft, ihr Kind sei wach, wenn es mit weit aufgerissenen Augen im Bett sitzt und weint oder schreit. "Aber das ist nicht der Fall", sagt Eichholz. Er ist selbst Vater eines Sohnes und erlebte die nächtlichen Angstattacken bei seinem Kind, als es viereinhalb und acht Jahre alt war. Seine Empfehlung: "Versuchen Sie, ruhig zu bleiben. Wecken Sie das Kind nicht auf, achten Sie lediglich darauf, dass es sich nicht verletzen kann, wenn es zum Beispiel um sich schlägt." Auch rät er davon ab, dem Sprössling von dem nächtlichen Ereignis zu erzählen: "Kinder erinnern sich nicht an die Vorfälle. Darüber zu sprechen kann ihnen aber Angst machen, sodass sie in der Folge vielleicht schlechter einschlafen." Ein Schlafmangel erhöhe jedoch wiederum die Wahrscheinlich­keit einer Attacke.

Jeder Schreck ist anders

Nachtschreck ist nicht gleich Nachtschreck: Bei manchen Kindern tritt er nur ein- oder zweimal auf, bei anderen dagegen phasenweise häufiger. Besonders betroffen sind Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren. Aber auch Neunjäh­ri­­ge haben gelegentlich noch Attacken. Ebenso scheint die Veranlagung (oft gepaart mit Schlafwandeln) eine Rolle zu spielen. Die kleine Heidi gehört zu den Kindern, die häufig und intensiv von der Schlafstörung heimgesucht wurden. "Manchmal schrie sie 20 Minuten am Stück, hin und wieder sogar zweimal die Nacht", erzählt die Mutter heute, zwei Jahre nach Heidis "erstem Mal".

Mehr Fantasie, mehr Angst

Oft neigen sehr sensible, fantasiebegabte Kinder dazu, die nächtlichlichen Angstattacken zu erleben, beobachtet der Schlafmediziner. Ex­perten vermuten, dass diese Kinder ­Ge­fühle aus ihrem Umfeld aufnehmen und mehr wahrnehmen, als ihren Eltern bewusst ist. Ein gruseliges Märchen kann sie sehr bedrücken, aktuelle Nachrichten oder ein Krankheits- oder Todesfall in der Familie können sie belasten. Zusätzlich wird das Phänomen durch Schlafmangel, fieberhafte Erkrankungen oder emotionalen Stress begünstigt – etwa weil der Wechsel in den Kindergarten oder in die Schule ansteht. Manchmal bewirkt auch ein zu voll gepackter Tagesablauf eine Reizüberflutung, die dann in der Nacht zu einer Pavor-­Attacke führt.

Zwischen Schlaf und Traum

Das kindliche Gehirn verarbeite nachts Ängste und Erlebnisse, erklärt der Schlafmediziner. Komme es in einer sensiblen Phase des Tiefschlafs zu einem Weckimpuls, zum Beispiel durch Licht oder ein Geräusch, kann das eine Nachtschreck-­Attacke hervorrufen. "Das Kind wird dann un­vollständig geweckt und bleibt in einem Übergangszustand zwischen Wachsein und Schlafen", erläutert Experte Eichholz. In der Regel passiert das in der ersten Nachthälfte, etwa anderthalb bis zwei Stunden nach dem Einschlafen.

Rituale können helfen

Hilfreich können abendliche Zu­bettgeh-Rituale sein, etwa ein Buch vorlesen, ein Gutenachtlied singen. Mit älteren Kindern kann man auch gemeinsam den Tag Revue passieren lassen. Dr. Dominik Ewald, Sprecher der bayerischen Kinder- und Jugendärzte in Regensburg, fragt deshalb besorgte Eltern stets, was ihr Kleines gerade beschäftigt. An­­schlie­ßend überlegt er gemeinsam mit ihnen, wie sie ihrem Kind Sicherheit geben können. Manchmal genügt es bereits, den Tagesablauf etwas ruhiger zu ge­stalten.

Das bestätigt auch Heidis Mutter Eva. Statt zwei Terminen pro Tag plant die Mutter nur noch einen Termin. Außerdem lässt sie ihre Tochter öfter mitbestimmen, ob sie alleine etwas unternehmen oder andere treffen wollen. Dadurch nahm die Zahl der Attacken schlagartig ab. Mittlerweile – Heidi hat vor Kurzem ihren vierten Geburtstag gefeiert – werden Nachtschreck­erlebnisse immer seltener.