Logo der Apotheken Umschau

Kann ein kleines Kind wirklich vor lauter Wut blau anlaufen und in eine kurze Ohnmacht fallen? Kaum vorstellbar, wenn man so etwas noch nie erlebt hat. Und irgendwie auch erschreckend. Detlef Reichel betreut regelmäßig Familien, deren Kinder sogenannte blaue Affektkrämpfe haben. "­Etwa einmal im Vierteljahr gibt es einen solchen Fall in meiner Praxis", erzählt der Kinderarzt aus Prenzlau.

Affektkrampf: keine neurologischen Spätfolgen

Meistens kann er schnell die Diagnose stellen und damit die ­Eltern beruhigen. Denn die Anfälle wirken zwar dramatisch, sind aber harmlos. "Untersuchungen zeigen, dass es ­keine neurologischen Spätfolgen gibt", sagt Dr. Michael Alber, Leiter der neuropädiatrischen Ambulanz im Uniklinikum Tübingen. Doch was passiert bei einem Affektkrampf ­eigentlich? ­Typisch ist diese Situation: Ein Kleinkind bekommt seinen Willen nicht und steigert sich aus Frust und Ärger in einen Schrei­krampf hinein. Dabei baut sich hoher Druck im Brustkorb auf, sodass das Blut aus dem Kopf schlechter zurück in den Körper fließen kann. "Es staut sich und das sauerstoff­arme Blut färbt die Lippen oder sogar das ­ganze Gesicht bläulich", erklärt Alber. Das Gehirn erhält nicht genug Sauerstoff, der Atem setzt aus, das Kind verliert das Bewusstsein. Was Eltern in Alarmbereitschaft versetzt, ist im Grunde eine schlaue Reaktion des Körpers. Denn durch die Ohnmacht schreit das Kind nicht mehr, der Brustkorb entspannt sich, das Gehirn wird mit frischem Blut versorgt. Nach wenigen Sekunden bis zu höchstens einer Minute kommt das Kleine wieder zu sich, kann aber danach noch müde und abgeschlagen wirken.

Das passiert, wenn das Kind ohnmächtig wird

Ähnlich zeigt sich ein sogenannter blasser Affekt­krampf, meist ausgelöst durch Angst oder eine Verletzung. Der Herzschlag verlangsamt sich, das Kind wird allmählich ganz blass im Gesicht, sackt zusammen, die ­Atmung setzt kurz aus. Anders als beim ­blauen Affekt­krampf schreit das Kind vor der Bewusstlosigkeit nicht oder nur kurz. Auch Misch­formen von blauem und blassem Affektkrampf gibt es. Bei beiden kommt es nur selten, zum Ende des Anfalls hin, zu Zuckungen. "Daher ist die Bezeichnung Krampf ­etwas irreführend", so Alber. In der Fachliteratur ist teils auch von Affektanfällen die Rede.

Die Anfälle treten in der Regel vor dem zweiten Lebensjahr erstmals auf und können bis zum fünften Lebensjahr immer wieder vorkommen. Wie oft ein Kind vor Wut oder Schreck bewusstlos wird, ist höchst unterschiedlich. "Meistens treten Affektkrämpfe einmal bis mehrmals in der Woche auf. Es kann aber sogar mehrmals an einem Tag oder auch nur ­alle paar Monate oder nur ein einziges Mal dazu kommen", sagt Experte Alber. Unklar ist zudem, wie viele Kinder betroffen sind. Man geht von drei bis vier Prozent der Kleinkinder bis fünf Jahre aus. Laut einer Studie von 2019 im Fachblatt Current Pediatric Reviews sind es 0,1 bis 4,6 Prozent.

Nach dem ersten Affektkrampf: Das Kind untersuchen lassen

Wenn ein Kind erstmals einen Anfall mit Bewusstlosigkeit hat, können Eltern schwer erkennen, was dahinter steckt. Im Zweifel sollten sie dann unter 112 den Notarzt rufen. Aber auch wenn das Kind schnell wieder zu sich kommt, sollte es bald von einer Kinderärztin oder einem Kinderarzt untersucht werden. ­Eine wichtige Informa­tion für die Diagnose ist, ob das Kind sich vor dem Anfall wehgetan hat oder wütend war. "Manche Eltern zeichnen die An­fälle mit dem Handy auf. Mit dem Video kann ich mir ein genaues Bild machen", sagt Reichel. Auch genaue Schilderungen der Eltern helfen bei der Einordnung. Zunächst denken Ärztinnen und Ärzte oft an einen epileptischen Anfall. "Im Gegensatz zum Affektkrampf kommt ein epileptischer Anfall aber immer aus heiterem Himmel – ohne konkreten Aus­löser", sagt Alber. Außerdem stehen von Anfang an motorische Symptome im Vordergrund, die Kinder haben Zuckungen oder werden steif. Bei Problemen mit dem Herz-

Kreislauf-System, wie Herzrhythmusstörungen, kann es ebenfalls zu Bewusstlosigkeit kommen. Eventuell werden Herz und Gehirn mit einer Elektrokardiografie (EKG) und einer Elektroenzephalografie (EEG) näher untersucht, um solche Ursachen auszuschließen.

Warum bei kleinen Kindern Affektan­f­älle auftreten, ist noch nicht vollständig erforscht. Wahrscheinlich spielen verschiedene Ursachen zusammen. So können Kinder vermutlich ihre Atemmuskulatur noch stärker beeinflussen als Erwachsene, also einfach die Luft anhalten, auch wenn sie längst wieder ­atmen müssten. "Die Schutzmechanismen sind wahrscheinlich noch nicht so da wie bei Erwachsenen", sagt Alber. Auch ein Mangel an Eisen, das eine wichtige Rolle bei der Bildung von Nervenbotenstoffen spielt, kann Affektanfälle begünstigen. Die Gabe von Eisen kann selbst bei Kindern mit normalen Werten die Affektanfälle lindern. ­Alber: "Die genaue Wirkweise ist unbekannt." Ob Eisen sinnvoll ist, sollte in jedem Fall vorab mit Kinderarzt oder -ärztin besprochen werden.

So sollten Eltern auf einen Affektkrampf reagieren

Ansonsten lässt sich nicht viel gegen Affektkrämpfe tun. Bei einem Wutanfall können ­Eltern versuchen, das Kind abzulenken, und das Schreien so frühzeitig zu unterbrechen. "Manchmal hilft leichtes Anpusten oder eine kühle Kompresse", sagt Reichel. Da heißt es ausprobieren. Auf keinen Fall das Kind schütteln! "Kleine Kinder haben oft noch keine ­gute Kopfkontrolle und könnten dadurch Schäden erleiden", erkärt Alber. Stattdessen gilt: möglichst ruhig bleiben und dafür sorgen, dass sich das Kind bei dem Anfall nicht verletzt. Und möglichst an das denken, was Michael ­Alber sagt: "Das sind ganz normale Kinder."

Lesen Sie auch:

Schreiendes, trotziges Kind

Affektkrämpfe bei Kleinkindern

Ohnmächtig vor Wut – manche Kleinkinder schreien sich so in Rage, dass sie plötzlich bewusstlos werden. Ein sogenannter Affektkrampf sieht dramatisch aus. Das steckt dahinter zum Artikel

Kind verletzt sich aus Wut selbst, was tun?

Wenn sich Kinder aus Wut selbst wehtun

Schlägt das Kind aus lauter Wut den Kopf gegen die Wand oder verletzt sich anderweitig selbst, sind Eltern oft geschockt. Aber wie bedrohlich ist Autoaggression bei Kindern wirklich? zum Artikel