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Die Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind alarmierend: Rein rechnerisch haben bereits ein bis zwei Kinder pro Schulklasse in Deutschland sexuelle Gewalt erlebt. Längst nicht alle Taten kommen zu einer Anzeige: Die Polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnete 2019 knapp 16.000 Fälle sexueller Gewalt an Kindern – neun Prozent mehr als im Jahr zuvor. Das Bundeskriminalamt sieht den Grund in einer besseren internationalen Zusammenarbeit bei Hinweisen auf Kinderpornografie, die zur Aufdeckung von Missbrauch geführt haben. Dennoch liegt die Dunkelziffer deutlich höher.

Aufgrund des Corona-Lockdowns und den eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten fanden Betroffene zuletzt noch schwerer Unterstützung: Während der Pandemie wurden weniger Fälle von Kindesmissbrauch gemeldet, berichtete die internationale Polizeiorganisation Interpol Anfang September.

Sexueller Missbrauch umfasst jede sexuelle Handlung, die mit und vor Kindern gegen ihren Willen vorgenommen wird. Die Taten reichen von verbaler Belästigung über flüchtige Berührungen an Brust oder Genitalbereich bis zu Vergewaltigung oder das Zeigen von Pornografie. Bereits der Versuch eines Sexualkontakts ist strafbar.

Miriam Rassenhofer ist Kinder- und Jugendlichen-psychotherapeutin und Juniorprofessorin für Lehre, Dissemination und Vernetzung im Kinderschutz am Universitätsklinikum Ulm

Miriam Rassenhofer ist Kinder- und Jugendlichen-psychotherapeutin und Juniorprofessorin für Lehre, Dissemination und Vernetzung im Kinderschutz am Universitätsklinikum Ulm

Kinder erfinden Missbrauch nicht

Die Täter sind zu 80 bis 90 Prozent männlich und kommen aus dem näheren Umfeld, zum Beispiel aus der Familie, Nachbarschaft, Kita, Schule oder aus dem Sportverein. "Den Kindern fällt es häufig sehr schwer, darüber zu sprechen, nicht alle schaffen es, sich überhaupt jemanden anzuvertrauen. Sie schämen sich, werden durch die missbrauchenden Personen eingeschüchtert oder fühlen sich unbegründet schuldig", erklärt Miriam Rassenhofer, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Juniorprofessorin für Lehre, Dissemination und Vernetzung im Kinderschutz am Universitätsklinikum Ulm.

Wichtig zu wissen ist: Kinder erfinden sexuellen Missbrauch nicht von sich aus. Häufig werden ihre Andeutungen von Erwachsenen missverstanden, etwa wenn sie nicht zum Klavierunterricht gehen wollen, ohne die Gründe erklären zu können. "Aufmerksam sollte man in jedem Fall werden, wenn Auffälligkeiten oder Änderungen im Verhalten neu auftreten", sagt die Psychologin. Manche Kinder werden ängstlich, traurig oder aggressiv, ziehen sich zurück, klagen über Bauchschmerzen, schlafen schlecht, nässen ein oder überschreiten selbst die sexuellen Grenzen anderer Mädchen oder Jungen. Dennoch bleibt eine Einschätzung schwierig: "Jede Veränderung kann auch andere Ursachen haben, beispielsweise Mobbing. Einige betroffene Kinder verhalten sich sogar besonders brav. Hinzu kommt, dass eindeutige Verletzungen am Körper nur selten zu finden sind", sagt die Psychologin.

Tanja von Bodelschwingh ist Sozialpädagogin beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch

Tanja von Bodelschwingh ist Sozialpädagogin beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch

Was können Eltern bei Verdacht auf Missbrauch tun?

Wer einen Verdacht hat, ist oft unsicher und möchte niemanden fälschlich beschuldigen. Was also tun? "Der erste Schritt ist, zu realisieren, dass Missbrauch als Ursache für Veränderungen des Kindes überhaupt infrage kommt", sagt Tanja von Bodelschwingh vom Hilfetelefon Sexueller Missbrauch. Die Sozialpädagogin berät Anrufer, die Fragen zum Thema haben oder sich um ein Kind Sorgen machen – anonym. "Jeder kann sich bei uns melden, auch wer nur ein komisches Gefühl hat", sagt sie.

Tanja von Bodelschwingh empfiehlt, alles genau zu dokumentieren, was einem dieses "komisches Gefühl" vermittelt. Und sich mit Personen auszutauschen, die das Kind ebenfalls im Alltag erleben, ohne den Missbrauchsverdacht zu äußern, zum Beispiel mit dem Einstieg "Irgendwie kommt mir das Kind verändert vor, wie sehen Sie das?"

Kind nicht mit Fragen überfordern

Wer das Gespräch mit dem Kind sucht, sollte ruhig bleiben: Aufgebrachte Reaktionen könnten dazu führen, dass das Kind einen schonen möchte. Auch bohrende Fragen können Mädchen und Jungen belasten. Besser ist es, ihnen zu signalisieren, dass man ein offenes Ohr für sie hat. 

Wird ein Verdacht konkret, hilft eine Fachberatungsstelle für sexuellen Missbrauch bei dem weiteren Vorgehen, sodass das Kind möglichst wenig unter den nächsten Schritten leidet. "Wichtig ist, den potenziellen Täter nicht sofort mit dem Verdacht zu konfrontieren, weil er das Kind dann noch mehr einschüchtern oder Beweise wie Fotos vernichten könnte", sagt Tanja von Bodelschwingh. Daher gilt es abzuwägen, wann Jugendamt oder Polizei aktiv werden.

Bedachtes Handeln schützt das Kind

Sexueller Missbrauch ist in Deutschland nicht generell anzeigepflichtig, damit Betroffene sich Vertrauenspersonen öffnen können, ohne sofort ein offizielles Verfahren loszutreten. Denn eine Anzeige bei Polizei oder Staatsanwaltschaft führt immer zu Ermittlungen, auch wenn sie zurückgezogen wird. Da die Täter den Kindern oft sehr nahestehen, fürchten manche Mädchen und Jungen trotz allem, sie durch eine Aussage zu verlieren. "Sie haben zum Beispiel Angst, Papa gar nicht mehr zu sehen. Wenn es jedoch keine offizielle Aussage der Kinder gibt und zunächst auch keine anderen Beweise für eine Tat, muss ein Verfahren eingestellt werden", erklärt Tanja von Bodelschwingh. "Ein erster wichtiger Schritt ist daher: Ruhe bewahren. Nur so lässt sich ein Kind langfristig schützen." Es sei von großer Bedeutung, sehr bedacht vorzugehen. "Zu schnelles Handeln kann die Situation des Kindes verschlimmern und damit möglicherweise die Aufdeckung verhindern – wenn beispielsweise weiterhin Kontakt zur Tatperson besteht, diese nun aber gewarnt ist und das Kind nur noch stärker unter Druck setzt, den Missbrauch geheim zu halten." Ist das Kind akut gefährdet, leitet das Jugendamt Schutzmaßnahmen ein, zum Beispiel die Inobhutnahme.

Auch wenn keine Anzeigepflicht besteht, sind Personen, die mit Kindern arbeiten, zum Beispiel in Schulen und Kitas, bei einem Verdacht verpflichtet, etwas zum Schutz des Kindes zu unternehmen. "Sie müssen unbedingt hinschauen, Auffälligkeiten wahrnehmen und dann entsprechend ihres Kinderschutzauftrags handeln", fordert Tanja von Bodelschwingh. "Das Problem auszusitzen ist keine Option!" Die Beschäftigten in den Einrichtungen müssen wissen, welche Schritte sie bei einem Verdacht einleiten sollten. Auch für sie ist eine Fachberatungsstelle die erste Anlaufstelle.

Feste Strukturen und Therapie können betroffenen Kindern helfen

Sexuelle Gewalt kann langfristig schwerwiegende psychische Folgen haben. "Um dem Kind nach einem Missbrauch Stabilität und Sicherheit zu vermitteln, braucht es so viel Normalität und Alltag wie möglich", erklärt Psychotherapeutin Miriam Rassenhofer. "Ein regelmäßiger Tagesablauf, soweit möglich mit Schul- oder Kitabesuch, kann Halt geben, ebenso die Unterstützung durch das Umfeld, Familie und Freunde." Manche Betroffene benötigten eine Traumatherapie, um das Erlebte zu verarbeiten, Folgesymptome zu lindern und sich positiv weiter zu entwickeln.

Vera Falck ist Vorsitzende des Vereins Dunkelziffer

Vera Falck ist Vorsitzende des Vereins Dunkelziffer

Auch der Hamburger Verein Dunkelziffer bietet die Psychotherapie nach sexuellem Missbrauch an. Daneben wollen die Mitarbeiter andere Erwachsene für sexuellen Missbrauch sensibilisieren und Kinder in ihrem Selbstbewusstsein stärken – mit altersgerechten Präventionsangeboten und Fortbildungen in Kitas und Schulen. "Prävention ist eine Grundhaltung und sollte im Elternhaus beginnen", sagt die Vorsitzende von Dunkelziffer, Vera Falck. "Ein informiertes Kind kann Übergriffe schneller erkennen." Wichtig ist aber: Auch wenn man Kinder stärkt, kann Missbrauch nicht immer verhindert werden. Miriam Rassenhofer betont: "Wenn ein Missbrauch geschieht, tragen weder die Kinder noch ihre Bezugspersonen die Verantwortung dafür, sondern immer die Täter und Täterinnen."

Mit diesen Botschaften tragen Erwachsene dazu bei, Mädchen und Jungen gegen sexuellen Missbrauch zu schützen:

  • "Du bestimmst, wer dich wann und wie anfasst." Kinder dürfen nicht ungefragt berührt werden.
  • "Du darfst nein sagen, wenn dir etwas unangenehm ist." Kinder haben das Recht an ihrem Körper. 
  • "Wenn sich Geheimnisse schlecht anfühlen, darfst du mit Erwachsenen darüber sprechen." Das ist kein Petzen oder Verrat. 
  • "Ich bin für dich da, wenn dich etwas bedrückt." Erwachsene müssen Kinder ernst nehmen.
  • "Ich gebe dir Worte für deinen Körper." Nur wenn Kinder Begriffe für Sexualorgane und Sexualität kennen, können sie auch darüber reden. 
  • "Erwachsene sind nicht immer im Recht." Kinder dürfen anderer Meinung sein und ablehnen, was Erwachsene tun. 
  • "Kinder haben niemals Schuld an sexueller Gewalt." Auch wenn sie dem Täter vertraut oder sich riskant verhalten haben.

Weiterführende Links und Informationen

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch
Erreichbar zu bestimmten Zeiten von Montag bis Freitag, anonym und kostenfrei: 0800 22 55 530
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/hilfe-telefon

Auch Mailberatung ist möglich

Hilfeportal Sexueller Missbrauch der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs
Mit umfangreichen Informationen für Betroffene, Angehörige, das soziale Umfeld und Fachkräfte: www.hilfeportal-missbrauch.de

Broschüre "Mutig fragen – besonnen handeln"
Mit Informationen für Mütter und Väter zur Thematik des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen. Herausgegeben vom Bundesfamilienministerium. Zum Download.

Dunkelziffer e. V.
Beratung per Telefon oder E-Mail und bundesweite Präventions- und Fortbildungsangebote. Beratungstelefon: 040 42 10 700 10
https://www.dunkelziffer.de