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Ich weiß, dass man das eigentlich nicht sagt. Und schon gar nicht schreibt. Aber es gibt einfach Kinder, die kann man vom ersten Augenblick an nicht ausstehen. Zumindest ist es mir so ergangen, als ich den neuen Kindergartenfreund meiner fünfjährigen Tochter kennenlernte.

Tim. Ein hinterhältiges Grinsen wie Jack Nicholson. Einen Ton am Leib wie Dieter Bohlen. Demonstrative Autoritätsverweigerung in Gestalt eines sommersprossigen Sechsjährigen. Na danke!

Trotz Ad-hoc-Antipathie lud ich Tim für einen Nachmittag zu uns ein. Erstens, weil meine Tochter sich das so sehr wünschte. Und zweitens... weiß ich nicht mehr. Weil ich für Chancengleichheit bin? Weil man doch alle Kinder irgendwie gern haben muss? Nein, das können nicht die Gründe gewesen sein. Zumindest nicht nach den Erfahrungen dieses Nachmittags.

Krawall-Duo auf Zerstörungstour

Dass der Nachmittag nicht mit einem fröhlich-ungefährlichen "Komm, wir machen ein Puzzle!" eingeläutet wurde, muss ich an dieser Stelle wohl kaum erwähnen. Vielmehr machten sich die beiden zur Aufgabe, sowohl Wohnung als auch mütterliche Nerven sukzessive zu verwüsten. Der strategisch sehr kreative Vorwand: Wir spielen Piraten!

Die Highlights der etwa dreistündigen "Tour de Demolage": mein zur Piratenflagge zerrissenes Lieblings-T-Shirt und ein Cornflakes-Wasser-Gemisch auf dem Wohnzimmerboden – für das authentische Strandflair auf der imaginären Pirateninsel. Außerdem noch eine ebenso bunte wie detaillierte Schatzkarte. Verewigt auf der weißen Tapete meines Schlafzimmers. "Hätte man dieser Zerstörung nicht Einhalt gebieten können?", höre ich die klugen Stimmen anderer Mütter. Resigniert kann ich nur entgegnen: Nein. Für die geballte Kraft dieses Krawall-Duos war ich schlicht und ergreifend zu langsam. Egal, an welchen Ort der Zerstörung ich kam, es war bereits zu spät.

Komm, wir spielen Piraten!

Ich konnte gerade noch dazwischen springen, als Tim versuchte, unseren Wellensittich Fritzi auf die linke Schulter meiner Tochter zu tackern. "Jetzt ist Schluss!", schrie ich. Wie eine wild gewordene Mary Poppins stieß ich die übelsten Verwünschungen und Drohungen aus. Nie wieder würde dieses kleine Monster einen Fuß in meine Wohnung setzen! In dem Moment klingelte es auch schon an der Tür. Aha. 18 Uhr. Tims Mutter. "Na, der werd’ ich was erzählen", dachte ich mir und stampfte Richtung Tür.

Ich öffnete wutentbrannt – Cornflakes am Pulli, Sittichfedern im Haar  – und vor mir stand die engelsgleiche Hippie-Ausgabe von Marilyn Monroe. Mein erster Gedanke: "Uups, unglückseliger Tausch kurz nach der Geburt?" Sie sah mich nur an, gütig, mild, und sagte nickend: "Ich weiß."

Dann öffnete sie ihre Handtasche und zückte mit konspirativem Blinzeln  eine Flasche Rotwein. Innerhalb von einer halben Stunde war das Chaos in  der Wohnung beseitigt und die Kinder für eine kleine Auszeit vor der  Glotze geparkt. Tims Mama und ich saßen auf dem Balkon, tranken Rotwein  und unterhielten uns prächtig. Der Beginn einer wunderbaren  Freundschaft.

Schön brav sein – sonst droht der "Fluch der Karibik"

Tim darf jetzt übrigens regelmäßig zu uns kommen. Gut, ich mag diesen  anarchischen kleinen Satan immer noch nicht besonders. Und Sittich  Fritzi verfällt jedes Mal in eine Art Wachkoma, wenn er nur seine Stimme  hört. Aber die Fronten zwischen ihm und mir sind geklärt: Keine  Zerstörung von Wohnungsinventar oder Haustieren. Sonst droht der Fluch  der Karibik.