Was gegen Alltagsstress hilft
Der ständige Stress zerrt an den Nerven? Kommt auf die Sichtweise an! Wer seine Aufgaben positiv sieht, wächst an ihnen, sagen Studien. Und so soll es funktionieren
Bluthochdruck, ein Magengeschwür, Burnout – die Liste der Stresserkrankungen ist lang, und keiner mag eine solche Diagnose gestellt bekommen. Klar ist berufstätigen Eltern aber auch: Das Leben zwischen Familie und Job ist tough, die Sehnsucht nach Entspannung groß. Und wir tun unser Möglichstes, sie zu erlangen. Planen abends noch eine Runde Yoga, wollen walken oder in die Sauna. Paradoxerweise baut das noch mehr Druck auf. Denn Wohlfühl-Paket hin oder her: Es sind zusätzliche Termine. Und die stressen. Erst recht, wenn es wie so oft bei einem "Eigentlich wollte ich" bleibt.
Viele fühlen sich dauerhaft angespannt
Laut einer Forsa-Umfrage für die Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2016 fühlen sich mehr als 60 Prozent aller Deutschen dauerhaft angespannt. Glücklicherweise können neuere Forschungsergebnisse uns ab sofort entlasten. Denn in mehreren Studien zeigte sich: Hohe Anforderungen zehren nicht zwangsläufig an uns, machen uns unter bestimmten Bedingungen sogar fitter, leistungsfähiger und selbstbewusster.
So war es ursprünglich auch von der Natur gedacht: "Grundsätzlich bereitet uns die physiologische Stressreaktion wie das Ansteigen von Blutdruck und Herzrate und die vermehrte Ausschüttung von aktivierenden Botenstoffen darauf vor, eine fordernde Situation zu meistern", erklärt Professor Lars Schwabe, Leiter des Arbeitsbereichs Kognitionspsychologie an der Universität Hamburg.
Stress: Alarmsystem aus der Urzeit
Das Prinzip dieser sekundenschnellen Aktivierung ermöglichte unseren Vorfahren, in Gefahrensituationen zu kämpfen oder zu flüchten. Sobald ein Raubtier zum Sprung ansetzte, konnten sie die bereitgestellte Energie durch Angriff oder Abzug schnell freisetzen. "Das ist das Entscheidende am Stress: Er macht uns hellwach, entscheidungsfreudig, leistungsfähig und ruft Fähigkeiten in uns hervor, über die wir beim Dösen im Gartenstuhl nicht verfügen", sagt die psychotherapeutisch ausgebildete Pädagogin Helen Heinemann, die das Institut für Burnout-Prävention in Hamburg leitet. Im Prinzip ist so eine Stressreaktion eine feine Sache.
Warum verbinden wir Stress dann mit Krankheit? "Man muss sicher zwischen akutem und chronischem Stress unterscheiden und auch die Intensität des Stresserlebens berücksichtigen", so Schwabe. "Menschen, die anhaltend starke Stresszustände erleben, haben ein höheres Risiko für psychische oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Kognitive Funktionen wie Denken, Entscheiden und Erinnern werden durch chronisch hohe Belastungen geschwächt."
Die Perspektive wechseln
Und: Während unsere Ahnen im Alarmzustand direkt körperlich aktiv werden durften, müssen wir meist äußerlich ruhig bleiben und finden kein Ventil für unsere Extra-Energie. "Wenn mein Chef mich aggressiv macht, kann ich schlecht um mich schlagen oder brüllen. Stattdessen muss ich meine Wut herunterschlucken", sagt Heinemann. Treten solche Spannungszustände regelmäßig auf, ohne dass es zu einem Abreagieren kommt, kann Stress Körper und Geist schaden.
Forscher konzentrieren sich nun darauf, wie wir die positiven Effekte wieder für uns nutzen können. Psychologe Schwabe: "Unter akutem moderatem Stress merken wir uns Dinge leichter, die in direkter Verbindung mit der Stresserfahrung stehen. Die Aufmerksamkeit ist besonders fokussiert, die Intensität des Erlebens verbessert das Erinnerungsvermögen", so der Wissenschaftler. "Zusätzlich bringen uns Stressereignisse auf kognitiver Ebene immer einen Lerneffekt für die nächste ähnliche Situation." Gerät eine Mutter im Supermarkt an den Rand der Nervenkrise, weil das Kind vor dem Süßigkeitenregal einen Wutanfall bekommt, wird sie überlegen, wie sie die Situation beim nächsten Mal meistert. Etwa das Kind während des Einkaufs bei den Großeltern lassen oder drei Gummibärchen als Belohnung ausloben, wenn alles ruhig verläuft. Das Einkaufen wird entspannter.
Anti-Stress-Strategien


Meditieren
Psychologe Prof. Dr. Peter Sedlmeier von der Technischen Universität Chemnitz hat eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zur Meditation ausgewertet. Sein Fazit: Meditation wirkt – vor allem gegen Stress. Denn die innere Versenkung ermöglicht es, Distanz zum Geschehen zu gewinnen.
Das macht ruhiger und gelassener. Lernen lässt sich Meditation in speziellen Kursen, etwa an der Volkshochschule oder in Meditationszentren. Wichtig ist, jeden Tag zu üben, wenn auch nur zehn oder 15 Minuten lang. Einsteiger können probieren, sich zehn Minuten an einen ungestörten Ort entweder in den Schneidersitz oder auf einen geraden Stuhl zu setzen. Augen schließen, ein- und ausatmen und dabei die Atemzüge zählen.

Freunde treffen
Geteiltes Leid ist halbes Leid – im wahrsten Sinne des Wortes. Menschen, die gut vernetzt sind, leiden weniger unter Stress, sagt der Münchner Neurologe und Psychotherapeut Prof. Dr. med. Peter Henningsen. Sie entwickeln außerdem seltener Depressionen, chronische Erkrankungen und Schmerzen. Menschen, die sich einsam fühlen, zeigte eine Studie der TU München, haben dagegen ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfälle. Außerdem schlafen sie schlechter.
Freundschaften zu pflegen ist also eine schlaue Taktik. Ab und zu sollte aber jeder ehrlich Bilanz ziehen. Bin ich zufrieden mit der Unterstützung, die ich erhalte? Welche Menschen tun mir wirklich gut? Welche erweisen sich eher als Energiefresser? Und wann brauche ich auch mal wieder Zeit für mich alleine?

Atemübungen machen
Luft holen und wieder ausatmen: eigentlich ganz natürlich. Wir lassen Energie ein- und wieder ausströmen – wenn wir es richtig machen. Unter Stress allerdings wird unsere Atmung flach, konzentriert sich auf den Brustkorb. Tiefe Atemzüge bewusst in den Bauch dagegen setzen im Körper eine Entspannungsreaktion in Gang. Genau das Richtige, wenn das Herz vor Aufregung rast und die Hände zittern. Einfach ausprobieren und bei jeder Gelegenheit üben – an der Supermarktkasse, abends im Bett, im Auto: tief Luft holen.
Dabei weitet sich bei jedem Atemzug der Bauchraum und nicht der Brustkorb. Beim Ausatmen entspannen sich Bauch und Zwerchfell. Die Yoga-Wechselatmung sorgt für eine extra Portion Sauerstoff und gute Nerven: Rechte Hand an die Nase legen. Mit dem rechten Daumen das rechte Nasenloch zuhalten. Aus- und einatmen. Das linke Nasenloch mit dem Ringfinger verschließen. Atem kurz anhalten. Rechtes Nasenloch öffnen, ausatmen. Einatmen. Von vorne. Mehrmals wiederholen.

Sport treiben
Runter vom Sofa! Wer faul herumliegt, erholt sich nicht. Beim Sport erhält der Körper dagegen die Möglichkeit, Stress abzubauen. Nach etwa einer halben Stunde setzt der Effekt ein, so Forscher der Sporthochschule Köln. Egal, ob man sich bei Pilates stählt, auf dem Trimmrad sitzt oder zum Joggen geht: Wichtig ist, dass der Sport auch Spaß macht!
Lust auf Powerwalken? Zuerst die Ferse aufsetzen, dann über die ganze Sohle bis zur großen Zehe abrollen. Die Arme schwingen gegengleich mit. Den Körper aufrecht halten, die Schultern nach hinten unten ziehen.
Viele Menschen scheinen Stresserfahrungen, obwohl sie daran reifen könnten, eher zu fürchten und verpassen so die positiven Effekte. Doch ein Perspektivwechsel lohnt sich, wie Forschungen von Jeremy P. Jamieson, Psychologie-Professor an der University of Rochester, zeigen. In einer Studie versetzte er Versuchspersonen durch eine Prüfungssituation in Stress. Einige wurden vorab angehalten, die körperliche Erregung als leistungssteigerndes Mittel anzusehen und die Stressreaktion positiv zu bewerten. Diese Gruppe hatte deutlich weniger gesundheitsschädigende Gefäßverengungen und erholte sich anschließend auch schneller von der Stressreaktion.
Stress ist Ansichtssache
Wie entscheidend die eigene Einschätzung ist, offenbarte eine weitere US-Studie. Befragte, die im Jahr zuvor viel Stress erlebt hatten und davon ausgingen, dass dieser ihrer Gesundheit schaden würde, zeigten ein um 43 Prozent erhöhtes verfrühtes Sterberisiko. Bei Teilnehmern mit einer positiven Einstellung zu hohen Anforderungen ergab sich kein solcher Zusammenhang. "Ist ein Ereignis für mich bedrohlich oder interessant? Von dieser Bewertung hängt ab, wie gestresst ich mich fühle", bestätigt Heinemann.
An diesem Punkt kann jeder ansetzen: die Herausforderung und den jeweiligen Entwicklungsschritt sehen, sich den Stress zum Freund machen und anerkennen, wie sehr er unsere Fähigkeiten auf den Punkt bringt. Auch kann man vorab Handlungsalternativen im Kopf durchspielen. "Alles, was uns hilft, die Kontrolle über eine Situation zu gewinnen, nimmt auch der Stresserfahrung den Schrecken", so Schwabe.
Beispiel: Kinderzimmer-Chaos
Sie haben das Kinderzimmer aufgeräumt, doch eine Stunde später ist davon nichts mehr zu sehen. Es gibt Stress, weil die Anerkennung Ihrer Leistung fehlt und Sie fürchten, die Arbeit erneut erledigen zu müssen.
Die Lösung: Jedenfalls nicht die Kinder zum Aufräumen zwingen, das bringt nur neuen Stress. Besser: Chaos fotografieren, Bild ausdrucken und außen an die Kinderzimmertür hängen. Dann sehen alle, was Sie leisten. Und: Zimmer lassen, wie es ist; lediglich Schneise zum Bett freiräumen, Dinge wie Scheren in Sicherheit bringen. Und: Sie fordern eine Pause auf dem Sofa ein, während die Kinder (wie auch immer) das Essen richten.
Beispiel: Haushalt ohne Ende
Putzen, Einkaufen, Termine mit den Kindern – alles hängt an Ihnen. Die bessere Hälfte hält sich zurück. Es gibt Stress, weil die Aufgaben einfach zu viel sind und Sie sich über den Partner ärgern.
Die Lösung: Auf keinen Fall direkt in eine Auseinandersetzung mit dem Partner eintreten. Lieber auf eine entspannte Grundstimmung warten. Dann kleine, konkrete Wünsche äußern, was der Partner in Zukunft übernehmen kann. In akuter Hektik auf eine Entlastung durch Babysitter, Reinigungshilfe oder Fahrgemeinschaften setzen.
Beispiel: Zu viele Wünsche
Abends würden Sie am liebsten alles gleichzeitig unternehmen – Sport, Kino, Freunde treffen. Und bleiben am Ende doch auf der Couch. Es gibt Stress, weil die Fülle an Möglichkeiten das Gefühl erzeugt, etwas zu verpassen.
Die Lösung: Machen Sie sich bewusst, dass Sie in der Rushhour des Lebens stecken. Konzentrieren Sie sich auf eine Unternehmung, an der Sie festhalten, etwa einen Abend mit Freundinnen pro Woche.