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Wir Eltern hatten nichts bemerkt. Die Tante unserer Tochter war es, die uns darauf ansprach: "Kann es sein, dass ­Paula schielt?" Erstaunen bei mir, Empörung bei meinem Mann. Unser Kind, gerade zweieinhalb, sollte schielen? Ich schaute Paula tief in die Augen, konnte nichts erkennen. Abends, kurz vor dem Einschlafen dann doch: Das eine Auge blickte nicht genau in die gleiche Richtung wie das andere. "Das ist doch normal", brummte mein Mann, der sich nicht vorstellen konnte, dass sein Augenstern schlechte ­Augen haben sollte.

Prof. Dr. Birgit Lorenz ist Direktorin der Augenklinik am Universitätsklinikum Gießen-Marburg

Prof. Dr. Birgit Lorenz ist Direktorin der Augenklinik am Universitätsklinikum Gießen-Marburg

Professorin Birgit Lorenz klärt mich auf: "Schielen ist nicht ­immer erkennbar", sagt sie. "Aber die Größe des Schielwinkels ist auch nicht entscheidend für das Risiko einer Schwachsichtigkeit", so die Direktorin der Augen­klinik am Universitätsklinikum Gießen-Marburg.

Andersherum ist richtiges Schielen niemals normal, und beim kleinsten Verdacht sollte das Kind dem Kinder- oder besser noch einem Augenarzt vorgestellt werden. Das gilt besonders für den Nachwuchs von ­Eltern, die als Kinder selbst schielten. Ich schaue meinen Mann streng an – Brillenträger und selbst als Fünfjähriger in Schieltherapie gewesen. So unwahrscheinlich ist es also gar nicht, dass unsere Tochter ebenfalls schielt. 

Ein Silberblick ist nicht harmlos

Strabismus, wie Mediziner sagen, steht für eine Fehlstellung der Augen­achsen. Im Normalfall können beide Augen ein Objekt fixieren. Diese Information wird im Gehirn zu einem einzigen Bild verarbeitet. Wer schielt, sieht häufig Doppelbilder, das Gehirn bekommt unterschiedliche Informationen und kann sie nicht zusammensetzen. "Bei Babys und kleinen Kindern schaltet das Gehirn ein Auge schnell ab, um ­diese Verwirrung zu umgehen", erklärt Lorenz. Deshalb ist es wichtig, so früh wie möglich ein Schielen zu diag­nostizieren und zu behandeln. "Je ­älter Kinder werden, desto schlechter sind die Heilungschancen", sagt Lorenz.

Übrigens: Ein Silberblick ist nur ­eine an­dere Bezeichnung für leichtes Schielen, aber nicht weniger bedenklich. Kinder mit einem sehr leichten Schielwinkel leiden zwar nicht unter dem kosmetischen Problem wohl aber unter den funktionellen Einschränkungen: etwa dem fehlenden räumlichen Sehen oder der Sehschwäche. Ist ein Kind blendungsempfindlich oder kneift es häufig die Augen zu, kann das ein Zeichen für Außenschielen sein.

Zum Augenarzt gehen

"Wenn ein Baby konstant schielt, muss es umgehend augenärztlich untersucht werden", sagt Lorenz. Denn es könnte ein angeborener grauer Star (Trübung der Augenlinse) oder auch ein Tumor vorliegen, beides Erkrankungen, die schnellstmöglich behandelt werden müssen. Babys unter einem halben Jahr schielen manchmal einfach so. Wenn es nur ab und zu, etwa beim Aufwachen, vorkommt, ist das kein Grund zur Besorgnis. Wenn ­­diese Kinder allerdings Frühgeburten waren, eine Entwicklungsstörung haben oder mindestens ein Elternteil auch schielte, wird sie der Kinderarzt eventuell schon mit ­etwa drei Monaten zum Augenarzt schicken.

"Ab dem Alter von ­etwa sechs Monaten sollte auch jedes leicht schielende Kind untersucht werden", rät Lorenz. Die Ursachen sind dann zwar nicht immer klar, es müssen aber Tumore oder Trübungen der Linsen ausgeschlossen werden. Häufig lösen eine angeborene Fehlsichtigkeit (etwa Weitsichtigkeit) eines oder beider Augen ein Schielen aus. Beim Augenarzt kümmern sich oft Orthoptistinnen um die kleinen Patienten – sie arbeiten mit den Ärzten zusammen, sind aufs Schielen spezialisiert, prüfen das Sehvermögen, die Stellung der ­Augen und ob diese korrekt zusammenarbeiten. ­

Kerstin Hornig, Orthoptistin aus Esslingen

Kerstin Hornig, Orthoptistin aus Esslingen

Schielen kann gut behandelt werden

Kerstin Hornig ist Orthoptis­tin in Esslingen und beim Berufsverband der Orthoptis­tinnen Deutschland e. V. in Baden-Württemberg aktiv. Sie untersucht täglich ­Babys und Kleinkinder, ­die nicht sagen können, ob sie etwas schlecht oder gar nicht erkennen können. "Es gibt viele Möglichkeiten, die Augen­funktionen auch nonverbal zu tes­ten, zum Beispiel über Reflexe", erklärt sie. ­Gerade, wenn der Schielwinkel sehr gering und mit bloßem Auge nicht zu sehen ist, hilft der sogenannte Brückner-­Test: Im Schein einer speziellen Lampe zeigen sich die Pupillen eines schielenden Kindes in unterschiedlichen Rottönen – stehen die Augen gerade, haben die Pupillen die gleiche Farbe. "Anderes können wir spielerisch diagnostizieren", sagt Hornig.

Manchmal ist es nur Pseudoschielen

Auch meine Tochter findet die bunten Gegenstände der Orthoptistin ziemlich ­lustig und lässt sich brav in die Augen ­schauen. Paula fixiert das Licht auf dem Bauch eines quakenden Frosches und darf sich ein Pflaster aus­suchen, mit dem ihr abwechselnd ein Auge abgeklebt wird. Mit ­einer ­lila Prinzessin im Gesicht muss sie Formen erkennen, von Nahem und von Weitem. ­Alles klappt, die ­Augen sind in Ordnung. Das Pflas­ter darf sie behalten und klebt es mir auf den Arm. Der Augen­arzt testet noch ihre Sehkraft.

Die Okklusionstherapie, wie die Abklebebehandlung mit ­Pflaster heißt, soll das schwächere ­Auge trainieren. Das gesunde ­Auge wird, abhängig vom Alter und Grad der Schwachsichtigkeit tageweise oder für ­einige Stunden täglich abgeklebt.

Das schwächere ist so gezwungen, die Sehleistung zu übernehmen. ­Eine Brille kann in bestimmten Fällen den Schielwinkel verringern oder sogar komplett korrigieren. ­Einer Operation bedarf es meist nur bei größeren Schielwinkeln, wenn das beidäugige Sehen verbessert werden kann oder das Schielen große Beschwerden verursacht.

Meine Tochter hat übrigens ein sogenanntes Pseudo­schielen. Es wird verursacht durch den bei Kleinkindern häufig sehr breiten Nasenrücken und eine ­kleine Extra­falte des Augeninnenlids, die auch nicht unnormal ist. Schaut Paula zur Seite, scheint es, dass ein Auge schief guckt. Mein Mann murmelt wissend, ich bin erleichert.