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Zum Beispiel das Wetter. Es reagiert so empfindlich auf Veränderungen, dass schon der Flügelschlag eines Schmetterlings in Chile das Wetter in der Uckermark beeinflussen kann. Der sogenannte Schmetterlingseffekt. Der beschreibt anschaulich, was Chaos ist: Wenn eine winzige Ursache derart enorme Auswirkungen haben kann, dass eine Vorhersage in einem System nicht mehr möglich ist. Chaos. Und wir werden direkt da hineingeboren. Nichts in dieser Welt ist vorhersehbar. Unser Alltag besteht aus einer schier unendlichen Anzahl an Variablen. Daher gibt es kaum ein menschlicheres Verhalten, als diesem Chaos mühsam Ordnung abzuringen. Zum Beispiel mit Konstrukten wie Zeit, Regeln, Gesetzen und Normen. Das bringt Ordnung und Vertrauen – und nimmt uns Angst. Geht man nun aber davon aus, dass der Mensch selbst das pure Chaos ist, dass man ihm mühsam Ordnung abringen muss, dass dessen Normen, Gesetze oder Regeln nicht schlüssig, seine Mimiken, Gesten oder sein Handeln ein Rätsel sind: Dann ist man vielleicht ein Stück näher daran zu verstehen, wie sich viele Menschen mit Autismus wohl fühlen. "Als wären sie hier auf dem falschen Planeten gestrandet", erklärt Karoline Teufel. Sie beschreibt damit das sogenannte Wrong-Planet-Syndrom. Die Psychologin leitet das Autismus-Therapie- und Forschungszentrum der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. In einem schmucklosen und rasch aufeinandergestapelten Container-Bau. Er ist symptomatisch für die wachsenden Patientenzahlen. "Wir brauchten schnell viel Platz", erzählt Teufel.

Mehr Kinder mit Autismus?

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) geht derzeit davon aus, dass eines von 160 Kindern eine Autismus-Spektrum-Störung hat – knapp das Hundertfache der Zahlen, die Studien aus den 60er- bis 80er-Jahren aufwiesen. Aber ist die Häufigkeit von Autismus tatsächlich gestiegen? Karoline Teufel glaubt das eher nicht. "Es ist vielmehr so, dass das öffentliche und damit auch das wissenschaftliche Interesse an Autismus stark zugenommmen hat. Die Menschen sind sensibler für das Thema geworden, und wir haben heute bessere Diagnosemöglichkeiten", erklärt die Psychologin.

Viele Facetten

Autismus an sich wird bei Kindern gar nicht mehr diagnostiziert. Seit 2013 sprechen Mediziner von der Autismus-Spektrum-Störung. Dieser Begriff fasst zusammen, was Autismus alles sein kann: Im Grunde geht es um Menschen, die – stark vereinfacht – Schwierigkeiten dabei haben, sich auf ihre Umwelt einzulassen und das Handeln der Menschen um sie herum zu verstehen. Autismus ist jedoch viel facettenreicher. Die Diagnose ASS reicht vom Frühkindlichen Autismus (wenn auch die Sprachentwicklung verzögert ist und sich entsprechende Symptome schon im Kleinkindalter zeigen), über das Asperger-Syndrom (bei unauffälliger sprachlicher und kognitiver Entwicklung) bis hin zum Atypischen Autismus (wenn sich Symptome erst recht spät zeigen). Unter ASS fallen auch alle unterschiedlichen Ausprägungen und Schweregrade. "Dadurch können wir heute Menschen helfen, die zuvor wahrscheinlich nie eine Diagnose erhalten hätten", sagt Dr. Sabine Schlitt. Die Psychologin leitet die Diagnostik-Sprechstunde für ASS am
Universitätsklinikum Frankfurt.

Diagnose ab 14 Monaten

Heute, sagt Schlitt, kann man erste Symptome schon recht früh feststellen. Laut einer im April im Fachblatt JAMA Pediatrics veröffentlichten Studie der University of California San Diego mit 1250 Kindern zeigen sich erste Auffälligkeiten schon im Alter ab zwölf Monaten. Und bereits ab einem Alter von 14 Monaten könne man sogar verlässlich sagen, ob ein Kind eine Autismus-Spektrum-Störung hat. Theoretisch. Denn die Praxis sieht ganz anders aus, schildert Schlitt: "Bis autistische Kinder die richtige Diagnose und damit Therapie erhalten, vergehen oft Jahre – viele sind dann schon im Schulalter."

Unklare Symptome

Das liegt vor allem daran, dass es nicht das eine Autismus-Symptom gibt, wie Schlitt erklärt. Dies zeigt zum Beispiel ein Blick auf die sehr unspezifischen "Auffälligkeiten", die ASS-Kinder haben können:
Ab zwölf Monaten:

  • Keine Zeigegeste, um Interesse mitzuteilen
  • Keine Winke-Geste zum Abschied
  • Fehlende Reaktion auf Namensrufe
  • Fehlende Nachahmung
  • Mangelnder Blickkontakt
  • Kein Folgen der Zeigegeste
  • Seltenes soziales Lächeln
  • Vorliebe für geometrische Figuren

Ab 18 Monaten:

  • Fehlendes Bringen, um etwas zu zeigen
  • Fehlendes "So tun als ob"-Spiel (kochen, telefonieren, Kuscheltiere wickeln)
  • Fehlende Reaktion auf die Not eines anderen (wenn sich ein Kind verletzt oder stürzt)
  • Eine einfache Spielhandlung wird ständig in genau gleicher Weise wiederholt: "Wenn zum Beispiel immer wieder die gleichen Dosen aus dem Regal geholt und aufeinandergestapelt werden. Oder das Licht ständig an und aus gemacht wird. Immer wieder", schildert Schlitt.

Symptome oft nicht eindeutig

Nur: Das sind alles Dinge, die auch ganz normal sein können. "Oft sind es die Erzieherinnen in der Kita, denen auffällt, dass das Kind erhebliche Schwierigkeiten in der Gruppe hat, meist alleine spielt und bei leichten Veränderungen sehr irritiert reagiert", sagt Schlitt. Doch dann beginne erst der Weg durchs Diagnose-Labyrinth: Kinderarzt, Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Pädaudiologie, Sozialpädiatrisches Zentrum, Kinderarzt, Autismus-Ambulanz, Differenzialdiagnostik, Therapie. "Das dauert", sagt Schlitt. Allein bis zu einem Erst-Termin in ihrer Autismus-Ambulanz vergehen oft sechs Monate und mehr.

Eine Brücke in unsere Welt

Bis dahin müssen Kinder mit Autismus ziemlich viel aushalten. "Stellen Sie sich vor, sie müssen permanent improvisieren", sagt Karoline Teufel, die zugleich fasziniert davon ist, wie sich Menschen mit Autismus teilweise behelfen. "Manche versuchen sich zu merken, wann die Menschen aus ihrem Umfeld welche Mimik zeigen, um sich entsprechend anzupassen. Das ist enorm anstrengend", schildert Teufel. Zumal nicht jeder Autist ein Genie ist, wie Teufel betont. Autisten mit einer solchen Inselbegabung gibt es. Sie sind aber sehr selten. Was die Intelligenz betrifft, verhält es sich ähnlich wie bei Menschen ohne Autismus: Das Gros bewegt sich im Mittel, die Kurve reicht von hochintelligent bis geistig beeinträchtigt.

Durch die Diagnose erhalten autistische Kinder wichtige Hilfen. Zum Beispiel Logopädie oder Autismus-spezifische Verhaltenstherapien. "Dort geht es im Grunde darum, eine Brücke von der Welt des Autisten in die unsere zu schlagen – um sie für die Herausforderungen in ihrem Alltag zu stärken", erklärt Karoline Teufel. Schließlich, fährt sie fort, müssen sich Autisten früher oder später zwangsläufig in unserer Welt zurechtfinden.

Alles ist zu intensiv

Umgekehrt ist es wichtig, dass vor allem die Eltern lernen, eine Brücke in die andere Richtung zu schlagen, meint Prof. Dr. Henry Markram, ein bekannter Hirnforscher, der an der Universität Lausanne in der Schweiz lehrt. Nachdem das sonderbare Verhalten seines Sohnes Kai mit Autismus erklärt wurde, wechselte Markram für zehn Jahre sein Forschungsgebiet und entwickelte eine neue Theorie über Autismus: das Intense-World-Syndrome. Entgegen bisherigen Annahmen, Autisten fehle es an Empathie, geht Markram davon aus, dass verschiedene Bereiche des Gehirns eines Autisten "viel zu sensibel
auf die Umwelt reagieren. Irgendwann wird es zu viel, und das Gehirn sucht nach Auswegen, um dieser Welt zu entkommen."

Eltern, bei deren Kind Autismus diagnostiziert wird, rät Markram daher vor allem: "Bauen Sie eine ruhige und strukturierte Blase um Ihr Kind auf. Beschützen Sie es vor plötzlichen und unvorhersehbaren Veränderungen. Vermeiden Sie Überraschungen. Planen Sie den Alltag, und halten Sie sich daran. Halten Sie immer Ihr Wort. Ihr Kind muss Vertrauen in Sie haben – darin, dass Sie es niemals überraschen werden. Erhalten Sie diese Blase, bis die kritische Phase mit fünf bis acht Jahren vorbei ist. Danach können Sie entspannen und ein außergewöhnliches Kind genießen."

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