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Mädchen haben lange Haare, spielen mit Puppen, lieben Rosa und Glitzer. Jungs raufen gerne, sind fasziniert von Autos wie von Baggern und klettern auf Bäume – viele halten das heutzutage für veraltete Rollenklischees. Deshalb versuchen Eltern häufig, in ihrer Erziehung gegenzusteuern. Die meisten tun das einfach, indem sie die kleine Prinzessin auch mal in Gummistiefel stecken und mit ihr ein Baumhaus bauen oder den Nachwuchsrennfahrer in eine Schürze, um ihm zu zeigen, wie man Kuchen backt.

Doch manche Eltern gehen noch ein Stück weiter: Sie wollen komplett verhindern, dass sich ihre Töchter mädchenhaft, ihre Söhne jungenhaft verhalten. Vor allem seit den späten sechziger Jahren versuchen immer wieder Einzelne oder Gruppen von Gleichgesinnten, ihren Nachwuchs möglichst von den vorherrschenden Rollenbildern zu befreien. Dazu verbannen sie geschlechtstypisches Spielzeug aus dem Umfeld der Kleinen. Mädchen, die mit Herd und Puppen spielen oder Jungs, die sich mithilfe von Rennautos oder – noch schlimmer – Waffen gegenseitig messen? Geht gar nicht! Bücher, in denen ausschließlich Männer Bauarbeiter oder Feuerwehrmänner sind und Frauen kochen oder den Kinderwagen schieben sind ebenfalls tabu. Und auch aus dem Wortschatz werden diese Klischees gestrichen. Aber kann das funktionieren?

"Solche Vorhaben, wie sie zum Beispiel in den Kinderläden der 68er-Bewegung unternommen wurden, scheitern in der Regel", sagt Doris Bischof-Köhler, Professorin für Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die sogenannten Kinderläden entstanden Ende der sechziger Jahre als Alternative zum herkömmlichen Kindergarten. Meist experimentierten sie mit neuen Erziehungskonzepten, unter anderem der Befreiung von Geschlechterrollenbildern. Das ernüchternde Ergebnis: Oft verhielten sich die Kinder am Ende sogar noch geschlechtstypischer als andere – die Jungen zum Beispiel rauflustiger und aggressiver, die Mädchen zurückhaltender.

Angeboren oder anerzogen?

Doch woran liegt das? Ist unsere Gesellschaft so stark von Geschlechterklischees geprägt, dass sie doch wieder auf die Kleinen abfärben? Das würde bedeuten, dass die Versuche, sie abzuschütteln, bisher nicht weit genug gingen. Oder sind bestimmte, geschlechtstypische Verhaltensweisen einfach angeboren und somit unüberwindbar? "Dass sie entweder naturgegeben oder von der Gesellschaft auferlegt sind, stimmt so nicht. Dieser konstruierte Gegensatz führt bloß dazu, dass sich die Diskussion immer stärker aufheizt", sagt Doris Bischof-Köhler.

Wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen dafür, dass beide Faktoren eine Rolle spielen: Weil sie genetisch verschieden sind, neigen Frauen und Männer auch zu unterschiedlichen Verhaltensweisen. So sind zum Beispiel Frauen – insgesamt betrachtet – personen- und beziehungsorientierter, Männer haben eher Spaß am Wettstreit und lieben risikoreiche Situationen. Wie sich der Einzelne aber tatsächlich verhält, hängt neben den Genen auch von verschiedenen Umwelteinflüssen wie der Erziehung ab. "Die Anlagen führen dazu, dass bestimmte Verhaltensweisen leichter fallen und mehr Spaß machen. Was nicht so sehr den genetischen Vorgaben entspricht, fällt dagegen schwerer, kann aber trotzdem erlernt werden", sagt Bischof-Köhler.

Der häufige Vorwurf, Eltern drängten ihre Kinder durch den Kauf klischeebehafteten Spielzeugs in die typischen Rollen, wurde in Studien entkräftet. Haben Kinder freie Wahl, womit sie sich beschäftigen möchten, entscheiden sie sich meist für geschlechtstypische Spielsachen: Mädchen zum Beispiel für Puppen und Jungs für Fahrzeuge. "Steht ihnen nur Spielzeug des anderen Geschlechts zur Verfügung, funktionieren sie es nicht selten einfach um", sagt Bischof-Köhler. Zum Beispiel stellen sich Jungs dann vor, eine Haarbürste sei ein Hammer.

Unterschiede schon früh vorhanden

Wissenschaftler haben außerdem herausgefunden, dass bereits bei Babys Verhaltensunterschiede zwischen den Geschlechtern erkennbar sind: Jungs interessieren sich zum Beispiel mehr für ihresgleichen als für Mädchen, Mädchen sogar noch viel stärker für ihre Geschlechtsgenossinnen. "Kinder verhalten sich schon geschlechtstypisch, bevor ihnen überhaupt bewusst ist, dass es zwei Geschlechter gibt", sagt Bischof-Köhler. Zwar können Kinder bereits im ersten Lebensjahr Männer- von Frauenstimmen unterscheiden. Ab dem zweiten Lebensjahr verwenden sie geschlechtsspezifische Begriffe. "Dabei sind sie aber oft noch unsicher", sagt Bischof-Köhler. "Erst mit etwa drei Jahren können sie zuverlässig von sich und anderen sagen, ob sie männlich oder weiblich sind und Tätigkeiten und Objekte entsprechend einordnen."

Doch auch dann fehlt ihnen noch die sogenannte Geschlechtsidentität – das Bewusstsein, dass man das Geschlecht nicht wechseln kann. Kleine Jungen denken in dieser Phase zum Beispiel, sie könnten "später einmal eine Mama sein". Fünf- bis Siebenjährige sind sich ihrer konstanten Identität dann zwar bewusst, haben zunächst jedoch sehr stereotype Bilder von Männern und Frauen. Denen wollen sie auch selbst stark entsprechen: Bei Mädchen in diesem Alter dreht sich meist alles um die Farbe Rosa, Schminke und Puppen, bei Jungen um Autos, Dinosaurier oder Wettkämpfe. "Das erschüttert Eltern, die keine typischen Mädchen oder Jungen aus ihren Kindern machen wollten, oft enorm", sagt Bischof-Köhler. "Doch die rigide Haltung hängt mit der kognitiven Entwicklung der Kinder zusammen. In dieser Phase können sie im Denken noch nicht gut differenzieren und scheren alles über einen Kamm."

Erst mit sieben bis acht Jahren gelingt es den Kleinen, in feineren Nuancen zu denken. Dass Kinder durch eine Phase extremer Geschlechterrollenbilder gehen, ist also Teil ihrer Entwicklung. Der Psychologe Hanns Martin Trautner hat herausgefunden: Auch Kinder, die zunächst besonders ausgeprägt an stereotypen Vorstellungen festhalten, werden später viel flexibler in ihrer Einstellung.

Anlagen erkennen und berücksichtigen

In der Erziehung Geschlechterunterschiede auszuklammern, wäre also kontraproduktiv. "Stattdessen sollten Eltern am besten versuchen, Unterschiede zu erkennen und anschließend ihre Erziehung entsprechend anpassen", sagt Bischof-Köhler. In ihrer Forschungsarbeit zeigt sich, dass Jungen einen höheren Erkundungsdrang haben, mehr raufen und wettbewerbsorientierter sind als Mädchen. Die interessieren sich hingegen stärker für Puppen- und Rollenspiele, verhalten sich fürsorglicher und bauen lieber persönliche Beziehungen auf.

"Natürlich ist das nicht bei jedem einzelnen Mädchen oder Jungen gleich. Kinder haben die unterschiedlichsten Interessen und Eigenschaften", sagt Bischof-Köhler. "Aber insgesamt lassen sich diese Tendenzen im Bezug auf die Geschlechter eindeutig beobachten." Bestimmte Neigungen können Eltern dann fördern, anderen gegensteuern. "Betrüblich finde ich allerdings, wenn Väter sich überhaupt nicht mehr trauen, mit ihren Söhnen zu toben und im Spiel zu raufen oder Mädchen ihre fürsorglichen Neigungen nicht mehr ausleben können – nur, weil diese Dinge verpönt sind", sagt Bischof-Köhler.