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"Mama, jetzt mal ganz ehrlich," setzte meine Tochter Marlene unlängst  an. "Du sagst mir immer, dass am Weihnachtsabend das Christkind zu uns  kommt. Aber die anderen Kinder in meiner Klasse erzählen, dass es zu  ihnen auch kommt. Auch am Abend. Wie soll denn das bitteschön  funktionieren?" Instinktiv gehe ich in Habachtstellung. Denn diesen "Da  stimmt doch was nicht"-Blick kenne ich inzwischen von meinem 6-jährigen  Fräulein Naseweiß.

Immer, wenn Marlene beginnt, die großen Mysterien dieser Welt zu hinterfragen, tritt bei Mutti unwillkürlich der Erklärungsnot-Schweiß  aus. Denn eines weiß ich inzwischen: Meine Tochter ist auf ihre  investigativen Entdeckungen stets besser vorbereitet als ich. Das heißt:  Sie besticht durch logische Argumentationsweise, während ich bedröppelt  auf der Couch sitze und manchmal ein "Mei, das ist halt so!" von mir  gebe. Aber die Zeiten, in denen sie sich damit zufrieden gibt, sind  leider vorbei.

Wunschzettel gegen Wirklichkeit

Also. Die Sache mit dem Christkind. Da müsse einfach ein Haken dran sein – meint sie. Der logistische Aufwand, die Transportwege, das offensichtlich lautlose Reinkommen in unsere Wohnung trotz verschlossener Tür und so weiter. All das spräche doch gegen diese ganze Weihnachtshexerei. "Jetzt sag, Mama," begann sie dann ihr Schlussplädoyer. "Gibt es das Christkind oder kaufst du die Geschenke und legst sie unter den Baum?"

Puh, ein skeptisches, fragendes Kind. Kann Marlene nicht einfach nur leuchtende Augen beim Anblick einer Christbaumkugel bekommen und verträumt Wunschzettel kritzeln? Ich dachte, das mit der Entdeckung der Wirklichkeit könne noch ein bisschen warten. Aber was will man von einem Kind erwarten, dessen erklärtes Lieblingsfach in der Schule Ethik ist. Von wegen aus dem Fenster gucken und Ausschau nach dem blond gelockten Christkind halten. Stattdessen immer diese zusammengekniffenen, zweifelnden Augen, sobald man mehr als einen Nikolaus mit angeklebtem Bart in der Fußgängerzone trifft.

Von Kaufhaus-Engeln und dem Zauber der Weihnacht

Zugegeben: Es wird den Kleinen auch sehr schwer gemacht an den Zauber der Weihnacht zu glauben. Kommerz und Kaufhaus-Christkinder allen Ortens. Aber dass Kinder schon so früh den ganzen Trubel durchschauen, war mir neu. Dabei hätte ich es wissen müssen. Schließlich erklärte sie mir schon am letzten Osterfest, dass Hasen überhaupt keine Eier legen könnten. Das wüsste sie aus ihrem WWF-Stickeralbum. Auch "Der Wolf und die sieben Geißlein" wurde mir vor ein paar Monaten nur noch mit dem wissenden Satz quittiert: "Du weißt aber eh, dass ein Wolf niemals so viele Ziegen auf einmal essen kann, oder?"

Eine Mär nach der anderen zerbröckelt in ihrem kleinen Kinderhirn. Der Nikolaus steckt Kinder in den Sack? Passen ja gar nicht rein. Vom Fernsehen kriegt man viereckige Augen? Auch das ein Ding der Unmöglichkeit. Ein leerer Teller macht das Wetter schön? Schon tausend Mal das Gegenteil passiert. Und jetzt also auch das Christkind. Die letzte Bastion der kulleräugigen Glückseligkeit. Da geht sie dahin.

"Wusste ich's doch!": Die Entdeckung der Wahrheit

Jetzt könnte ich natürlich anfangen auf der Existenz des heiligen Gabenbringers zu beharren. Allein: Sie würde es durchschauen. Also gebe ich alles zu. Die Sache mit den Geschenken. Das Glöckchenklingeln, das in Wirklichkeit der Opa übernimmt. Und dass den Wunschzettel niemand außer mir jemals zu Gesicht bekommt.

Resigniert blicke ich zu Boden. Somit habe ich also den Rest weihnachtlichen Kinderglaubens zerstört. Großes Unglück? Weinen? Nein! Meine Tochter schnipst mit dem Finger und sagt Freude strahlend: "Wusste ich's doch!", zieht sich zufrieden in ihr Zimmer zurück und hört ihre Weihnachts-CD. Und mir kommt die Erkenntnis, dass das ja auch irgendwie eine wertvolle Weihnachtsgabe sein kann: die Entdeckung der Wahrheit.