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Fassungslos sitzt Susi H. auf dem Stuhl. Ihr Sohn Jan hat soeben heulend das Wohnzimmer verlassen. Trotz mehrmaliger Aufforderung hat er einfach nicht den Fernseher ausgeschaltet, sondern stattdessen nur frech geantwortet. Und dann ist Susi die Hand ausgerutscht. Im Affekt. Dabei hält sie von Körperstrafen in der Erziehung gar nichts.

Ähnlich wie 56,6 Prozent aller Eltern, die körperliche Strafen generell ablehnen. So das Ergebnis einer repräsentativen Studie, die der Kinderschutzbund und UNICEF im Jahr 2020 in Auftrag gab. Doch mehr als die Hälfte der Befragten (52,4 Prozent) findet auch: Ein Klaps auf den Hintern kann durchaus in Ordnung sein.

Gegen diese Einstellung spricht der Paragraf 1631 BGB. Dort ist seit November 2000 verankert, dass körperliche und seelische Gewalt in der Erziehung gesetzlich verboten ist.

Wo hört Erziehung auf, wo fängt Gewalt an? Und was tun, wenn Eltern doch mal die Kontrolle verlieren? Wir haben Sabine Pankofer, Professorin für Psychologie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München gefragt. Sie beschäftigte sich intensiv mit dem Thema körperliche Gewalt in Familien.

Frau Pankofer, welche psychischen Schäden drohen einem Kind bei einer Ohrfeige?

Jede Ohrfeige ist Gewalt und hat Auswirkungen auf die Psyche. Ob im Einzelfall ein dauerhafter psychischer Schaden zurückbleibt, lässt sich nicht sagen. Fakt ist aber: Gewalt ist schädlich. Und eine Ohrfeige ist Gewalt.

Und was ist mit der körperlichen Gesundheit des Kindes?

Das hängt vom Alter ab. Bei Babys kann schon leichtes Schütteln zu tödlichen Verletzungen an der Wirbelsäule führen. Bei einer Ohrfeige kommt es darauf an, wie stark sie ist und wie sie auftrifft. Sie kann das Ohr schädigen, die Drehbewegung könnte die Halswirbelsäule verletzen. Bei kleinen Kindern kann das lebensgefährlich sein.

Welche rechtlichen Konsequenzen drohen ohrfeigenden Eltern?

Eine Ohrfeige ist strafbar. Bei vielen Menschen ist die Toleranzgrenze leider hoch. Ich höre oft: "Ich hab's auch erlebt, und mir hat's nicht geschadet." Deshalb werden Ohrfeigen selten angezeigt – was aber vollkommen gerechtfertigt wäre.

Ist ein Klaps auf den Po schon Gewalt?

Auch hier ist das Ziel klar: das Kind soll etwas spüren. Das ist keine erzieherisch hilfreiche Maßnahme, sondern ein Impuls, der eigentlich unterdrückt beziehungsweise bewältigt werden müsste. Auch beim Klaps sollte es keine Diskussion geben.

Und Festhalten?

Beim Festhalten ist die Grenze zur Gewalt sehr viel schwerer zu ziehen. Festhalten kann einen pädagogischen Zweck haben, wenn die Eltern dem Kind deutlich machen: Ich bestimme, was zu tun ist. Oder: Was du nicht tun sollst. Deshalb muss man fragen: Was ist die Intention? Festhalten kann Gewalt sein, wenn es unnötig oder nicht zielführend ist, zum Beispiel bei einem Schreibaby.

Ist ein einmaliger Ausrutscher verzeihlich?

Natürlich kann ein Fehler passieren und ist verzeihlich. Besonders Kinder verzeihen viel. Je kleiner das Kind ist, desto eher bezieht es alles, was passiert, auf sich und denkt: Ich bin schuld. Auch ich als Fachfrau kann verzeihen – man muss mit den Eltern freundlich sein, sie stehen unter großem Druck. Trotzdem ist es niemals in Ordnung, zu schlagen. Und: Man kann sein Verhalten zu jedem Zeitpunkt ändern.

Wie sollen Eltern sich gegenüber ihrem Kind verhalten, wenn ihnen die Hand ausrutscht?

Sie sollten auf das Kind zugehen und – auch kleinen Kindern – sagen, dass es ihnen leid tut. Sobald etwas angesprochen wird, ist es für das Kind leichter zu bewältigen. Aber Entschuldigungen sind kein Freibrief für Gewalt. Wichtig ist auch: Weitere Selbstoffenbarungen sind nicht angebracht. Manche Eltern verfallen in Erklärungen, weil sie vom Kind eine Absolution wollen. Sie schämen sich und relativieren ihre Tat. Auch wenn das Kind anstrengend ist, die Verantwortung trägt immer der Erwachsene.

Welche anderen Verhaltensweisen sind auch Gewalt – zum Beispiel Niederbrüllen oder Ignorieren?

Es gibt auch nicht-körperliche Formen der Gewalt, zum Beispiel Ignorieren, Anschreien oder Beschimpfen. Natürlich, manchmal müssen Eltern Dinge ignorieren, die das Kind tut – das ist im Alltag unvermeidbar. Aber wenn Ignorieren als Machtmittel benutzt wird, ist es Gewalt. Außerdem kommt es auf die Intensität, Dauer und Häufigkeit an. Speziell Ignorieren ist schwer zu entschuldigen, weil es für das Kind nicht nachvollziehbar ist.

Die Großelterngeneration wurde noch regelmäßig geschlagen. Trotzdem hat sie die heutige Elterngeneration vergleichsweise gewaltfrei erzogen.

Früher war Schlagen der Normalzustand. In den 50ern und Anfang der 60er Jahre galt es noch als unangemessen, sich in ein Kind einzufühlen und auf seine Bedürfnisse besondere Rücksicht zu nehmen. Diese Sicht hat sich verändert, das Schlagen ging dadurch zurück.

Was können Eltern tun, wenn sie glauben, die Kontrolle zu verlieren?

Es gibt flächendeckend, meist kostenlose Erziehungsberatungsstellen, bei denen Eltern sich Hilfe holen können, ohne dass sie sich schämen müssten. Außerdem gibt es Elternkurse, Familienbildungsstätten oder Hotlines mit ausgezeichneten, auch präventiven Angeboten.

Werden die Eltern angezeigt, wenn sie sich dorthin wenden?

Wenn Eltern von sich aus Hilfe suchen, werden sie nicht angezeigt, das wäre ja kontraproduktiv. Eine Anzeige geschieht meist aus der Situation heraus durch Zeugen, oder wenn schwere Schäden beim Kind erkennbar sind. Das Gesetz sieht außerdem die Begleitung und Unterstützung der Eltern vor. Fachkräfte entscheiden, was im Einzelfall angemessen ist.

Sollen Eltern ihre Kinder am besten gar nicht bestrafen?

Eltern müssen Grenzen aufzeigen und signalisieren: Das, was du getan hast, hat Konsequenzen. Psychologisch gesehen ist es wichtig, dass das Kind auch Frustration erfährt. Nur so kann es Moral entwickeln und lernen, was gut und was falsch ist. Ich habe aber festgestellt, dass vor allem sehr engagierte Eltern Frustrationen vermeiden wollen. Die Kinder werden lange übermäßig beschützt. Später erwartet man von ihnen aber eine hohe Frustrationstoleranz und große Leistungen. Das passt nicht zusammen.

Welche Konsequenzen sollte Fehlverhalten haben?

Wichtig ist, dass Tat und Konsequenz zusammenhängen. Der Klassiker ist leider immer noch der Entzug von Fernsehen, Computer, Süßigkeiten... Dabei wirken Pauschalstrafen meist wenig. Besser ist: Wenn ein Kind alles herumwirft, muss es aufräumen, sonst darf es beispielsweise nicht nach draußen. Eltern sollten das Verhalten ihres Kindes kritisieren, aber das Kind trotzdem annehmen.