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Nach einer unruhigen Nacht mit Ohrenschmerzen kroch Crabby am nächsten Morgen aus dem Ohr von Fisher. Der Schmerz war verschwunden, und Crabby, eine kleine freund­liche Krabbe, war von nun an der ­beste Freund des damals Dreijährigen. Den restlichen Urlaub in Norwegen verbrachte die dreiköpfige Familie jetzt also zu viert. Sehen konnte Crabby außer Fisher zwar niemand. Aber für Mutter Paige Davis war das alles andere als ein Problem. Denn die Psychologin erforscht an der York St. John University in England, welchen Zweck imaginäre Freunde überhaupt haben und wie sie sich später auf die Entwicklung der Persönlichkeit auswirken.

Da, wenn man sie braucht

"Als wir aus Norwegen zurückkamen, war Crabby verschwunden. Und im nächsten Urlaub tauchte er plötzlich wieder auf", erzählt Paige Davis. Insgesamt, sagt die Psychologin und muss etwas schmunzeln, sei die ­­Geschichte um Crabby fast schon wie aus dem Lehrbuch. Denn Fantasiefreunde werden oft in gewissen Notsituationen geschaffen. "Fisher war damals krank, hatte wirklich starke Ohrenschmerzen und war dazu noch in Norwegen in einem ungewohnten Umfeld – und Crabby half ihm eben dabei, mit dieser Situation umzugehen. Er war das Extra an Unterstützung, die Fisher gerade brauchte", ­erklärt Davis.

Vorbote einer Störung?

Dass imaginäre ­Freunde etwas Gutes an sich haben, glaubte die Wissenschaft allerdings lange nicht. Der US-amerikanische Kinderarzt und Psychiater Benjamin McLane Spock ging zum Beispiel noch in den 70er-Jahren davon aus, dass die Fantasiefreunde ein Zeichen dafür seien, dass es dem Kind an irgendwas fehle. Zum Beispiel an der Fähigkeit, sich mit (echten) Kindern zu beschäftigen. Andere Forscher betrachteten die ­unsichtbaren Gesellen gar als Vorboten einer psychischen Störung. "Das lag wohl daran, dass die meisten Studien damals mit Kindern gemacht wurden, die ohnehin schon psychisch krank waren", vermutet Paige Davis.

Tröster und Sündenbock

Erst 1997 rückte die Arbeit von Marjorie Taylor, einer Psychologin der University of Oregon, die imaginären Freunde in ein besseres Licht. Sie fand nicht nur heraus, dass knapp ein Drittel aller Kinder zwischen drei und sieben Jahren einmal eine Freundschaft haben, die nur in deren Kopf existiert. Sondern auch, was ­diese Freundschaft für Kinder bedeutet. "Diese Freunde können Tröster, Beschützer, Komplize und auch Sündenbock sein", erklärt Davis. Demnach können Fantasiefreunde wie Crabby eben auch dann auftauchen, wenn sich Eltern trennen oder ein ­Geschwisterkind geboren wird – in sogenannten Übergangssituationen.

"Oder wenn sie sich einsam fühlen", sagt Paige Davis. "Ich glaube auch, dass gerade jetzt, während der Corona- Pandemie, eine ganze Menge neuer imaginärer Freunde geschaffen werden." Was jedoch nicht bedeuten solle, dass sich Kinder nur dann Freunde ausdenken, wenn sie Probleme haben oder es Veränderungen gibt. Die Psychologen Dorothy und Jerome Singer von der Yale Univer­sity kamen in ihren Arbeiten zum Beispiel zu dem Schluss, dass ein unsichtbarer Freund eher ein Zeichen für ein kreatives Kind ist, das versucht, sich und seine Gefühle zu regulieren, zu beruhigen – und ein erdachter Freund könne das wohl besser als echte Freunde. "Im Prinzip ist es eine Art kognitives Spiel", erklärt Davis. Ein Spiel, das durchweg Positives mit sich bringt.

Größere soziale Kompetenz

Bei Kindern, die sich einen imaginären Freund erdacht haben, sei laut Davis vor allem die sogenannte "­Theory of Mind" besser entwickelt. Dieser Fachbegriff aus der Psycho­logie beschreibt die Fähigkeit, sich in die Gedanken anderer hineinversetzen zu können. Kinder mit Fantasiefreunden haben also eine größere ­soziale Kompetenz. Dass zeigt sich, so Davis, zum Beispiel schon in der Art, wie sie ihre (echten) Freunde beschreiben: "Sie sagen nicht Peter ist groß und hat braune Haare, wie andere Kinder in dem Alter das machen. Sie würden eher sagen, er ist witzig oder er ist nett, weil er mir einmal hoch geholfen hat, als ich gefallen bin", erklärt Davis.

Das Scheinspiel wirkt sich zudem positiv auf die sprachliche Kompetenz aus, wie die britischen Psychologen Anna Roby und Evan Kidd von der University of Manchester in einer bereits 2008 veröffentlichten Studie ­herausfanden. Sie verglichen vier- bis sechsjährige Kinder – 22 mit und 22 ohne imaginäre Freunde – in ­einem Kommunikationtest. Die Kinder mit imaginären Freunden konnten sich nicht nur besser ausdrücken, indem sie unnötige Informationen wegließen, sie konnten sich auch besser in andere einfühlen.

Eltern sind verunsichert

Dennoch: Wenn das eigene Kind plötzlich mit einem imaginären Freund um die Ecke kommt, verun­sichert das viele Eltern. "Es gibt aber wirklich keinen Grund zur ­Sorge", betont Psychologin Davis. Sie blieb bei der Sache mit Crabby schon von Berufs wegen gelassen. "Gut, ich ­glaube, ich habe ­Fisher gewisser­maßen dazu ermutigt, sich Freunde auszudenken", sagt Davis. Und das macht der heute Fünfjährige auch immer noch. Crabby selbst, sagt Davis, ist inzwischen wohl irgendwo gestorben.

Tolle Verbündete

Dafür gibt es nun die Hausfreunde. Einer von ihnen heißt "Space-Ship". "Die sind ganz praktisch", sagt Davis. "Wenn Fisher sagt, dass Space-Ship Nudeln essen will, kann ich einfach antworten: ‚Oh, der bekommt heute keine Nudeln‘. Fisher muss dann nicht auf mich sauer sein. Denn ich habe das Nein ja zu ­Space- Ship gesagt."