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Offiziell sollte meine Tochter Marlene eigentlich erst die Buchstaben A, M, I, U, O und T können. Inoffiziell blätterte sie unlängst im Wartezimmer beim Arzt in einem Magazin und las laut das Wort "Massaker" vor. "Mama, was ist denn das?", kam gleich hinterher. Gekicher im Wartezimmer, Erklärungsnot bei Muttern.

So geht das seit Wochen. Mein Kind ist im absoluten Buchstabenrausch. Sie kennt die Firmen, die unsere Haushaltsgeräte hergestellt haben, die Slogans auf Supermarktprospekten und selbstverständlich auch die Titel der Bücher auf meinem Nachttisch. Nun lese ich wahnsinnig gerne Thriller mit gruseligen Titeln. Erklären Sie mal einer Abc-Schützin, warum Schneewittchen sterben muss oder warum sich in einem Koffer Blut befinden soll. Da ist ist die "Massaker"-Erklärungsnot nichts dagegen, das kann ich Ihnen sagen.

Über Papier wandernder Zeigefinger

Das geschriebene Wort löst bei Marlene eine nie da gewesene Faszination aus. Noch vor ein paar Monaten wurden Zeitschriften höchstens mal wegen der Bilder durchgeblättert. Inzwischen wandern Augen und Zeigefinger über alle möglichen Zeitungsartikel: das britische Königshaus, die US-Präsidentschaftswahlen, der neueste Promi-Klatsch – ihre Interessen kennen keine Grenzen.

Vorbei auch die Zeiten, in denen ich ungestört am Computer meine Texte schreiben konnte. Denn: Marlene steht wie gebannt neben mir und folgt den entstehenden Buchstaben auf dem Bildschirm. Nichts bleibt ihr verborgen. "Haaa!!!! Du hast Massaker geschrieben!!!," ruft sie genau in diesem Augenblick. Verstehen Sie, was ich meine? Adieu, schöne Erwachsenenwelt.

Egal, ob ich einen Einkaufszettel, eine SMS oder eine Postkarte schreibe: Die Nase meiner Tochter steckt schon drin. Keine Chance, dass diesem "Leseschwamm" irgendwas entgeht. Inzwischen hab ich mir angewöhnt, nur noch nachts SMS zu schreiben. Unter der Bettdecke.

Buchstabier-Marathon im Supermarkt

Ich fühle mich irgendwie zurückgeworfen in die Laufen-Lern-Phase. Erinnern Sie sich? Alles dauerte auf einmal wieder viel länger. Mit dem Kinderwagen ging man rein in den Supermarkt, holte sich Lebensmittel und ging wieder raus. Als die Kleinen aber anfingen zu gehen, konnte so ein Einkauf eine gefühlte Ewigkeit dauern. So ähnlich ist es auch mit den Leseanfängern: Jedes Wort in Augenhöhe will gelesen werden. Während ich also manchmal schon längst an der Kasse anstehe, buchstabiert Marlene noch alle Puddingsorten durch.

Durch die Lesewut meiner Tochter zeigt sich allerdings auch mir die Welt wieder in einem ganz anderen Licht. So fällt mir jetzt erst auf, wie viele englische Wörtern tagtäglich um uns rumschwirren – von "Sale" über "Love" bis hin zur "Jeans". Und Marlene liest alles selbstredend mit deutscher Aussprache. Für sie sind englische Wörter inzwischen nur noch ein Grund zum Augenrollen. Ihr ist es ein Rätsel, warum man statt "Ausverkauf" lieber "Sale" und statt "Geschäft" lieber "Shop" schreibt. Buchstaben-Platzersparnis und hipper Modernismus sind für eine Sechsjährige keine Argumente.

Aha-Effekt und Stirnrunzeln abwechselnd

Die Welt hat für Marlene plötzlich eine Dimension dazu gewonnen. Das löst bei ihr ständige Aha-Effekte, aber auch immer wieder Stirnrunzeln aus. Letztens saß sie zum Beispiel im Schneidersitz vor unserem Bücherschrank und hatte ein Buch von T.C. Boyle auf ihrem Schoß liegen. Wieder der wanderne Zeigefinger und dann die ungläubige Frage: "Mama, warum hast du ein Buch über Beulen?"