Kleine Künstler: Was uns Kinderzeichnungen sagen
Papier und ein paar Stifte – mehr braucht es nicht, um ein Kunstwerk zu schaffen. Beim Zeichnen durchlaufen alle Kinder typische Phasen. Fünf Jungen und Mädchen zeigen ihre Bilder

Mehr als nur bunte Kritzeleien: Bilder sind für Kinder auch ein Weg zu kommunizieren
Wenn das Baby kreativ mit seinem Brei matscht, finden viele Eltern das nicht witzig. Aber: Es zeigt tatsächlich eine frühe Form künstlerischen Ausdrucks. "Dabei nehmen Kinder zum ersten Mal wahr, dass sie etwas erzeugen und sich ausdrücken können", sagt Professorin Monika Miller, Kunstpädagogin an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg. Sobald die Kleinen mit Stiften umgehen können, beginnen sie zu kritzeln – und entwickeln ihre zeichnerischen Fähigkeiten in typischen Entwicklungsschritten. Wie diese ablaufen, erklärt Monika Miller anhand von fünf Kinderzeichnungen. Wir haben Jungen und Mädchen dafür ihre Familie malen lassen:


Hannah, 2 Jahre und 11 Monate:
"In der Kritzelphase saust die Hand unkontrolliert übers Papier. Wir bezeichnen das Ergebnis als Hiebkritzeleien. Je ausgeprägter die Feinmotorik ist, umso feiner und gezielter wird dann der Stift geführt. Dies lässt sich bei Hannahs Bild wunderbar sehen: Neben Schwung-
und Kreisbewegungen malt sie schon Zickzack. Rechts unten in Orange sieht man aber auch bereits ein sogenanntes Urknäuel, aus dem sich bald erste Formen herausbilden werden.
Typisch in der Kritzelphase: Die kleine Künstlerin hat noch keinen Bezug zum Blatt, sie kennt kein Oben und Unten, das Papier wird beliebig hin und her gedreht. Sie probiert das Material aus, verwendet verschiedene Farben, hat vielleicht eine Lieblingsfarbe. All dies geschieht ohne eine konkrete Vorstellung davon, was sie zu Papier bringen möchte. Fachleute sprechen von sinnunterlegter Darstellung. Das Kind erzählt einem auf Nachfragen zwar, was es gerade malt. Fünf Minuten später kann das aber bereits etwas anderes sein. Einzelne Formen können für etwas Konkretes stehen, ein Strich etwa für einen Apfel."

Lucia, 4 Jahre:
"Aus planlosem Kritzeln entstehen sogenannte mitteilende Bilder. Das Kind kann der Spur, die es auf dem Papier hinterlässt, eine Bedeutung zuschreiben und diese auch mitteilen. Typisch sind die Kopffüßler. Kinder zeichnen einen Menschen dabei so, wie sie sich selbst wahrnehmen, wenn sie an sich hinunterblicken. Da sehen sie einfach nur ihre Arme und Beine.
Auffällig an Lucias Kopffüßler: Augen, Nase und Mund sind deutlich zu erkennen. Sie hat auch etwas um den Mund herum gemalt, vielleicht einen Schnurrbart. Außerdem hat der Kopffüßler eine wunderbare Frisur. Die Arme haben Finger, allerdings einfach nur viele. Kunstwerke von Kindern zeigen immer, was den Kleinen im Moment des Zeichnens wichtig ist: Lucia war wohl ganz in die Details des Gesichts vertieft und hat keinen Wert auf Farbe gelegt.
In dieser Phase dient Kindern das Blatt zunehmend als Orientierungsfläche. Die Objekte sind nun nebeneinander angeordnet, die Beine zeigen nach unten. Allerdings schwebt die Figur noch im Raum."

Ben, 4 Jahre und 9 Monate:
"Ben steckt gerade in der Schemaphase. Das heißt, er hat nun ein ausgeprägteres Gefühl für die Bildordnung. Die Figuren stehen fest auf der unteren Bildkante, oben grenzt der Himmel die Zeichnung ein. Ben beherrscht geometrische Formen wie Kreis und Rechteck und setzt diese gezielt als Kopf und Rumpf ein. Charakteristisch: Kinder zeichnen Menschen für eine gewisse Zeit immer den Bauchnabel ein.
Ben hat zudem Spaß daran, die geometrischen Formen in Muster zu setzen. Sie tauchen in seinem Bild an verschiedenen Stellen auf. Sie waren für ihn sehr wichtig, darüber hat er zum Beispiel vergessen, den Menschen Arme zu malen. Nur eine Figur besitzt einen Mund. Ein ganz typisches Merkmal dieser Phase: Was dem Kind wesentlich ist, malt es besonders groß oder gibt ihm viel Raum.
Sehr interessant an Bens Bild: Er mischt die verschiedenen Raumsysteme. Der Streifen rechts im Bild könnte eine Straße sein, die Ben in der Draufsicht gemalt hat. Die Figuren hingegen wurden von vorne gezeichnet."

Magdalena, 6 Jahre und 1 Monat:
"Ein typisches Bild von einem Vorschulkind. Man sieht deutlich, dass Magdalena die Schemata für einen Menschen voll entwickelt hat: Ihre beiden Figuren verfügen über Kopf, Hals, Rumpf, Arme mit Händen und Fingern, Beine mit Füßen. Sie hat ihre Menschen aber auch mit vielen weiteren Details versehen: Die linke Figur hat zum Beispiel einen Busen, die Augen der beiden haben Pupille, Irisfarbe und Wimpern sowie unterschiedliche Frisuren. Typisch für dieses Alter ist auch, dass Magdalena noch nicht durchgängig die "richtige" Farbe verwendet hat: Die Ohren etwa sind grün und rot.
Was wir auch bei sehr vielen Zeichnungen in diesem Alter finden: die Ecksonne. Warum Kinder sie so gerne malen, wissen wir nicht. Der breite, schwungvoll gezeichnete Grünstreifen zeigt, was als Nächstes in der Entwicklung kommt: das perspektivische Zeichnen."

Isabelle, 4 Jahre und 6 Monate:
"Dass Kinder gleichen Alters oftmals doch sehr unterschiedlich malen, zeigt das Bild von Isabelle. Ihre Zeichnung könnte auch von einem Vorschulkind stammen. Der Himmel oben und ein Streifen Gras unten begrenzen die Bildfläche eindeutig. Isabelle kann bereits zählen, denn ihre Figur hat fünf Finger.
Sehr auffällig ist das detailliert gezeichnete Gesicht: Die Nase beispielsweise ist schon recht plastisch dargestellt. Die Augen haben eine Pupille und Wimpern. Isabelle versucht, ihre Beobachtungen genau wiederzugeben. Dazu passt auch die akkurat gezeichnete Deutschlandfahne. Sehr beeindruckend ist das Herz, das die kleine Künstlerin ihrer Figur gemalt hat. Dass Kinder früher als andere sehr ausgefeilt zeichnen, kann verschiedene Gründe haben. Manche sind in ihrer Entwicklung weiter oder einfach geübter im Zeichnen."
Drei Fragen an unsere Expertin
Muss jedes Kind zeichnen?
Nein. Manche Kinder machen lieber andere Dinge. Kunst ist allerdings ein Kommunikationsmittel. Daher sollten Eltern sie fördern, indem sie Materialien bereitstellen und ihrem Kind dafür Raum und Zeit geben.
Was taugen Malbücher?
Nichts. Kinder üben das Ausmalen auch beim freien Malen. Das genügt völlig.
Woran erkennen Eltern, dass ihr Kind begabt ist?
An diesen drei Punkten: 1. Das Kind beginnt wesentlich früher als andere zu zeichnen und malt mit zwei Jahren erkennbare Formen. 2. Das Kind malt ständig und versinkt völlig in der Tätigkeit. 3. Das Kind entwickelt sich deutlich schneller als Gleichaltrige weiter und ist einfallsreicher.