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Die erste Zeit mit einem Neugeborenen ist ein Ausnahmezustand, für alle Eltern. Pläne und geregelter Alltag existieren nicht mehr. Im Mittelpunkt stehen Babys Bedürf­nisse, viel Ruhe und vor allem so viel Nähe wie möglich. Wenn sich aber nach den ersten Wochen immer noch kein Alltag einstellen mag, das Baby nicht länger als zwei Stunden am Stück schläft oder häufig schreit, sind Eltern oft verunsichert und überlegen, ob ihr Kind nicht vielleicht besonders anstrengend ist. In Blogs und Online-Magazinen fällt dann oft der Begriff des "High-Need-Baby".

Starke Bedürfnisse

Geprägt hat diese Bezeichnung der US-amerikanische Arzt Dr. William Sears. Er hat auch das "Attachment Parenting", die bindungsorientierte Erziehung, bekannt gemacht. Nach Sears haben "High-Need-Babys" sehr starke Bedürfnisse, brauchen inten­sive Betreuung, wachen häufig auf, lassen sich schwer beruhigen oder trennen sich nur unter Protest von Mama oder Papa. Abgeleitet hat ­Sears diese Kriterien aus seiner eigenen Beobachtung als achtfacher ­Vater und Kinderarzt.

Eltern unter Stress

"In der Forschung taucht dieser Begriff nicht auf. Es handelt sich nicht um eine genetische Besonderheit", sagt Prof. Dr. Karl Heinz Brisch, Vorstand des Instituts für Early Life Care in Salzburg. Der Kinderpsychiater und Psychotherapeut stimmt mit ­Sears überein, dass manche ­Babys sensibler auf äußere Reize reagieren oder ihre Bedürfnisse vehementer äußern, "das kann auch phasenweise auftreten", so Brisch. "So wie wir Erwachsenen unterschiedlich sind, so sind es auch die Babys – und manche haben eben einen erhöhten Betreuungsbedarf", sagt die Sozialpädagogin Paula Diederichs aus Berlin. Sie begleitet Schwangere und Eltern in Krisen und hat mehrere Schreibaby-Ambulanzen aufgebaut. In den Gesprächen mit Müttern und Vätern spürt sie, unter welchem Stress ­diese stehen. High-Need-Eltern am Rande der Erschöpfung, gebeutelt von Schlafmangel und fehlender Ruhe.

Kleine Seismografen

"Wir leben in einer Stressgesellschaft, das geht weder an den Eltern noch an den Kindern vorbei", sagt Paula Diederichs. Stress, ob am Arbeitsplatz, in der Beziehung oder hausgemacht, durch hohe Ansprüche und falschen Perfektionismus, kann sich auf das Kind übertragen. Ganz wichtig: Niemand hat Schuld an diesen Stressfaktoren, niemand trägt dafür die Verantwortung. "Diese Schuldgefühle müssen wir gerade Müttern unbedingt nehmen", betont Paula Diederichs. Stress wirkt auf uns alle, auch auf Ungeborene im Mutterleib."

Babys sind Seismografen, sie spüren solche Stimmungen und spiegeln sie", erklärt Karl Heinz Brisch. Weil sie sich von solchen Einflüssen noch nicht abgrenzen können, reagieren sie sich ab, indem sie signa­lisieren: "Ich spüre großen Stress! Komm und halt mich fest!" Ein ganz normales und nachvollziehbares Bedürfnis.

Umgang mit Baby verändern

Mit Begriffen wie "High-Need-Baby" oder der Diagnose "Regulationsstörung" könne der Eindruck entstehen, das Problem läge beim Kind, gibt Karl Heinz Brisch jedoch zu bedenken. "Dann würde sich vieles verbessern, wenn man den Umgang mit dem Baby verändern würde." Was Eltern häufig versuchen: Sie probieren neue Einschlafrituale, stillen zu anderen Zeiten, hängen sich an jeden Strohhalm. Meist mit mäßigem Erfolg – was die Stressspirale und die Erschöpfung verstärken.

Experten wie Paula Diederichs und Karl Heinz Brisch haben dagegen die Erfahrung gemacht, dass es Babys ungemein beruhigt, wenn ihre Eltern zur Ruhe kommen. Dazu gehört, dass diese sich erst einmal bewusst machen, in welchem Ausnahmezustand sie sich überhaupt befinden. "Vor ­allem Frauen werden mit der Geburt quasi auf einen anderen Planeten katapultiert", sagt Diederichs. "Eben hatten sie noch alles unter Kontrolle, jetzt sind sie unsicher und unter Druck." Die Expertin bringt den ­Eltern etwa Entspannungsmethoden und Achtsamkeitsübungen bei, damit sie in kleinen Schritten lernen, Druck und Stress loszulassen.

Alles von der Seele reden

"Wir müssen Mütter und Väter unbedingt begleiten und sie über ihre Ängste, Trauer und Schmerz sprechen und weinen lassen", sagt Karl Heinz Brisch. Manchmal überschatten eine angstvolle Schwangerschaft, eine schwere Geburt oder andere ­negative Erfahrungen die erste Zeit mit dem Nachwuchs. In seiner Arbeit hat Brisch schon erlebt, dass Schreibabys plötzlich einschliefen, sobald die Mutter sich alles von der Seele geredet hatte.

Was nun also tun bei "high-need"? "Holen Sie sich Hilfe", sagt Brisch. Das kann beim Kinderarzt sein, in einer Schrei-Ambulanz, einer Elternberatung oder bei den Frühen Hilfen (siehe Kasten). "Geben Sie den Anspruch auf, alles perfekt zu schaffen", rät Diederichs. Babys halten nichts von überzogenen Idealen und lieben ihre unperfekten, müden, manchmal verwirrten Eltern so wie sie sind.

Hilfe finden

Was tun, wenn das Baby sich nicht beruhigen lässt und Sie sich überfordert fühlen? Sprechen Sie mit Ihrer Hebamme oder der Kinderärztin. Sie können Ihnen auch Adressen von Beratungsstellen nennen.

Eine gute Anlaufstelle sind die "Frühen Hilfen": Unter www.elternsein.info finden Sie ­Informationen, Beratung und eine Suche für Hebammen und Eltern-Kind-Kurse in Ihrer Nähe. Bei Sorgen können Sie sich an das Elterntelefon unter 0800/111 0 550 wenden (Anruf ist kostenlos).

Schreibaby-Ambulanzen sind eingestellt auf High-Need-Babys, eine Suche für Ambulanzen in ganz Deutschland gibt es unter www.elternsein.info/suche-schreiambulanzen

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