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Ein Flüstern ins Ohr. Ein heimlich angefertigtes Muttertagsgeschenk. Eine geschlossene Kinderzimmertür. Ab dem Vorschulalter üben kleine Geheimnisse einen ganz besonderen Reiz auf Kinder aus. Für Eltern ist das oftmals eine ganz neue Erfahrung. Hat mein Kind kein Vertrauen mehr zu mir? Warum versteckt es Sachen vor mir? Liebe Eltern, keine Sorge: Geheimnisse zu haben ist für Kinder ein ganz normaler Schritt in der Entwicklung.

Geheimnisse hüten und lüften

"Die Fähigkeit, etwas geheim zu halten, entwickelt sich mit der wachsenden Selbstständigkeit der Kinder," sagt Professorin Renate Valtin, Erziehungswissenschaftlerin und Psychologin aus Berlin. Zwischen drei und sechs Jahren gehen Kinder mit der sprichwörtlichen Geheimniskrämerei noch spielerisch um, indem sie zum Bespiel der Mama nicht verraten wollen, was sie gemalt oder wo sie die Süßigkeiten versteckt haben. Diese Heimlichtuerei ist natürlich noch nicht besonders konsequent. Das höchst geheime Schokoversteck wird der Mami auch schon mal verschwörerisch ins Ohr geflüstert...

Im Vorschulalter beginnen Kinder nicht nur Geheimnisse zu hüten, sondern auch zu lüften. "Zunächst einmal ist nicht das Kind voller Geheimnisse, sondern die Welt ist für das Kind geheimnisvoll," sagt Valtin. "Ereignisse und Gespräche, die es nicht versteht, Briefe und Bücher, die es nicht lesen kann, Vorschriften, deren Grund es noch nicht kennt, verschlossene Türen und Schränke." Das Kind beginnt mehr und mehr zu begreifen, dass nicht nur die Erwachsenenwelt geheimnisvoll und unergründbar sein kann, sondern auch "dass seine eigenen Phantasien und Spiele, Gedanken und Wünsche den anderen nicht ohne weiteres durchsichtig sind," so Valtin. Und mit dieser Einsicht beginnt ein neuer, aufregender Lebensabschnitt. Es kann einen Plan schmieden – und keiner weiß davon. Es spielt ein Spiel – und niemand anderes versteht es. Es erforscht den Garten – und erbaut sich seine eigene Welt.

Schöne und schlimme Geheimnisse

Für Kinder sind Geheimnisse erst einmal eines: das erste geistige Eigentum, mit Hilfe dessen sie sich von den Eltern und allen anderen abzugrenzen vermögen. Geheimnisse helfen ihnen, ihre eigene Identität zu finden. Ihre Phantasie anzuregen. Ihre Kreativität auszuleben. Geheimnisvolle Geschichten, rätselhafte Sagen und magische Welten beginnen in diesem Alter einen spannenden Reiz auf die Kinder auszuüben.

Kinder im Vorschulalter haben in erster Linie "schöne" Geheimnisse. Das heißt: "Kinder, denen es gutgeht, versuchen in diesem Alter noch nicht, verbotene Handlungen oder bedrückendes Wissen geheim zu halten," so Valtin. "Das tun die Kleinen nur, wenn sie zu viel Angst vor elterlicher Strafe haben, um sich mitzuteilen." Mit vier Jahren versucht ein Junge noch nicht zu verheimlichen, dass er ein Loch in die neue Jeans geschnitten oder Apfelsaft auf den Teppich geschüttet hat. Das Bewusstsein für "schlimme" Geheimnisse kommt erst im Schulalter. Wenn schlechte Noten verschwiegen werden oder die Tatsache, dass man im Supermarkt einen Kaugummi geklaut hat.

Auch das Bedürfnis, ein Geheimnis mit einem Freund oder einer Freundin zu teilen, kommt erst im Schulalter. Das Geheimnis als soziale Funktion entwickelt sich bei Kindern etwa ab einem Alter von acht Jahren. "Dann wird das Geheimnis von einer isolierenden Sache zu einer Verbindung zwischen Freunden", so Valtin. Geheimnisse schweißen zusammen und sind der Vertrauensbeweis in einer guten Freundschaft.

Eltern sollten Geheimnisse respektieren

Grundsätzlich sollten Eltern die Geheimnisse ihrer Kinder respektieren. Die Jungen und Mädchen brauchen diesen Freiraum. Die geheime Welt sollte von Eltern nicht mit einem schlechtem Gewissen oder mit harten Strafen belegt werden. Geheime Gedanken und Handlungen sind ein Stück Exklusivität. Akzeptieren Sie es, wenn Ihr Kind plötzlich die Tür zum Kinderzimmer schließt und das "Draußen bleiben"-Schild anbringt. Nehmen Sie es hin, dass es nicht mehr Ihnen, sondern der besten Freundin etwas ins Ohr flüstert. Und lassen Sie ihm die geheimen Verstecke im Kinderzimmer – ohne hinterherzustöbern.

Übertriebene Neugier oder gar das Schnüffeln in den privaten Sachen der Kinder kann zu einem großen Vertrauensbruch führen. Andererseits sollten die Erwachsenen wach und aufmerksam sein, um die Qualität der Geheimnisse beurteilen zu können. Es ist selbstverständlich wichtig, dass Sie wissen, woher das blaue Auge Ihres Sohnes stammt. Aus Schuldgefühlen oder Angst vor Sanktionen verraten Kinder den Eltern bisweilen Dinge nicht, die diese wissen müssen (zum Beispiel Mobbing in der Schule oder sexuelle Übergriffe). Deswegen ist es sehr wichtig, dass Eltern ihren Kindern vermitteln: Ich bin nicht neugierig, aber wenn es etwas Schlimmes ist, solltest du es mir sagen. Ich kann und werde auf jeden Fall für dich da sein und dir helfen.

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