Logo der Apotheken Umschau

Zusammenfassung:

  • Die Fähigkeit, sich an Dinge zu erinnern, ist Studien zufolge wahrscheinlich frühestens mit 18 Monaten ausgebildet.
  • Vorher lernen Kinder oder erkennen Dinge wieder, von Erinnerungen spricht man dabei aber nicht.
  • Die meisten Menschen erinnern sich an etwas aus ihrem dritten oder vierten Lebensjahr.
  • Wahrscheinlich liegt das unter anderem daran, dass sich Ereignisse besser einprägen, wenn sie sprachlich vermittelt werden.

Ein geplatzter Luftballon, ein von der Oma spendiertes Eis, ein Regenwurm, der über den Gehweg kriecht – was haben diese drei Dinge gemeinsam? Es sind Erinnerungen, die ein Dreijähriger Wochen oder gar Monate später aus seinem Gedächtnis hervorkramt – sehr zum Erstaunen seiner Eltern, denn ­­diese haben die für ihren Nachwuchs beeindruckenden Erlebnisse schon längst nicht mehr im Kopf. Und wundern sich, was ihr Kleiner alles so abspeichert. Aber hat er deshalb tatsächlich ein besseres Gedächtnis? Nein, sagen Wissenschaftler.

"Kinder sehen anders auf die Umwelt und fokussieren auf ­andere Lebensinhalte. Sie nehmen selbst kleine Reize wahr, die wir Erwachsenen gar nicht mehr bemerken", erklärt Dr. Thors­ten Kolling. Der Psychologe forscht an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main darüber, wie sich das Gedächtnis bei Babys und Kindern entwickelt. Erwachsene speichern vieles nur kurzfristig ab und vergessen auch schnell wieder – dass der Sohn zum Beispiel weinen musste, als sein Luftballon platzte. "Alles andere wäre eine Belastung für das Gedächtnis", sagt ­Kolling.

Dr. Thorsten Kolling ist Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main

Dr. Thorsten Kolling ist Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main

Früheste Erinnerung mit etwa drei Jahren

Doch ab wann beginnen sich Kinder eigentlich zu erinnern? Fragt man Erwach­sene nach ihrer frühesten Erinnerung, erzählen die meisten von einem Ereignis, das sie mit etwa drei Jahren erlebt haben. Etwa den Umzug der Familie in eine fremde Stadt oder die Geburt der kleinen Schwester. "Zwar gibt es eine große Variabilität, aber die meisten Menschen erinnern sich an etwas, das im dritten oder vierten Lebensjahr passiert ist", sagt Professor Dr. Manfred Spitzer, Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm.

Studien, an denen Thorsten Kolling mitgearbeitet hat, legen die Vermutung nahe, dass sie frühestens mit 18 Monaten fähig sind, sich an Erlebnisse zu erinnern. Bis zum sechsten Lebensjahr sind die Erinnerungen allerdings meist sehr bruchstückhaft. Erst mit dem Eintritt in die Schule haben Kinder eine beständigere Vorstellung von ihrer Vergangenheit.

Auch Babys sammeln schon Wissen an

Dennoch passiert schon vorher viel in Babys Gehirn. Schon die Kleinsten zeigen Gedächtnisleistungen. So erkennt ein Neugeborenes den Herzschlag seiner Mutter wieder, den es im Bauch gehört hat. "Ab der Geburt sammeln Babys dann Wissen über sich und die Welt, sie speichern Abläufe ab, lernen", erklärt Psychologe Kol­ling. Von Erinnern im eigentlichen Sinn spricht der Psychologe in dem Zusammenhang jedoch nicht. Vielmehr lassen sich diese Leistungen dem sogenannten prozeduralen Gedächtnis zuordnen. Dazu zählen Fähigkeiten, Abläufe oder Fertigkeiten, die automatisiert sind und ohne bewusstes Erinnern abgerufen werden können wie beispielsweise das Fahrradfahren.

Im Gegensatz dazu definieren Wissen­schaftler das deklarative Gedächtnis. Hier speichert der Mensch einerseits sein Wissen über die Welt, zum Beispiel dass ­Kühe Milch geben oder Madrid die Hauptstadt Spaniens ist. Andererseits ruhen­ hier auch die Ereignisse, die wir als Erinnerungen bezeichnen. "­Diese haben wir mit ­ihren Begleitumständen festgehalten, ­also in ­ihrem Raum-Zeit-Kontext", sagt ­Kolling. So hat der Dreijährige abgespeichert, dass ihm die Oma das Eis damals als Belohnung gekauft hat, als er mit ihr einen Ausflug ins Museum gemacht hat und er zum ersten Mal seine neuen Sandalen anziehen durfte. Häufig hinterlassen auch Gerüche besondere Spuren im Gehirn.

In den ersten Jahren funktioniert das Gehirn anders

Warum aber erinnern wir uns in der Regel nicht an Episoden aus unseren ersten drei Lebensjahren? "Wir wissen inzwischen, dass das Einspeichern im Gehirn noch nicht so klappt", erklärt Manfred Spitzer. Der Grund: Babys Gehirn muss erst reifen. Zunächst ­funktionieren nur einfache Areale, die direkt mit der Außen­welt verbunden sind. Das heißt, das Kleine kann beispielsweise hören oder sehen, es spürt, wenn es gestreichelt wird. Tiefere Verarbeitungen, dass es zum Beispiel über etwas nachdenkt oder assoziiert, finden noch nicht statt. Eine wichtige Rolle dabei spielt die Verbindung zwischen Hippocampus und Gehirnrinde, die sich im Lauf der Zeit entwickelt.

Noch etwas ist ganz entscheidend: "Ereignisse graben sich stärker ins Gehirn ein, wenn sie danach sprachlich vermittelt werden", sagt Spitzer. Das zeigten unter anderem interkulturelle Untersuchungen: Forscher stellten fest, dass sich ­Europäer besser an frühere Kindheitsereignisse erinnern als ­Asiaten. Als Grund vermuten die Wissenschaftler, dass in westlichen Kulturen das Sprechen über die eigene Geschichte ausgeprägter ist, da hier der Einzelne stärker im Mittelpunkt steht.

Über Erlebnisse sprechen

Daher ist es wichtig, mit dem Nachwuchs über dessen Erlebnisse zu sprechen. Dabei kommt es auch auf die Art und Weise an, wie Eltern mit ihren Kindern reden. "Offene Fragen wie zum Beispiel ‚Was meinst du denn, wie es dann weiterging?‘ provozieren Kinder zum Nachdenken", sagt Spitzer. "Außer­dem sollte man sich zurücknehmen und das Kind vor allem selbst erzählen lassen."

Was Erinnerungen noch auf die Sprünge hilft und Kindern meist viel Spaß macht: mit Mama und Papa Fotos oder Videos angucken, auf denen die Kleinen zu sehen sind. Auch hier kommt es darauf an, sich über das, was es zu sehen gibt, miteinander zu unterhalten. "Sonst hat das Kind irgendwann das Erlebnis nur noch als Abziehbildchen im Kopf", erklärt Manfred Spitzer. "Erinnerungen sollten aber ein Teil der Persönlichkeit sein."