Ab wann darf ein Baby sitzen?
Das Baby nicht zu früh hinsetzen und hinstellen – das schadet dem Rücken! So wird häufig gewarnt. Zurecht? Unser Experte klärt drei weit verbreitete Irrtümer auf

Die Wirbelsäule verändert bei Babys noch ihre Form
Das Mädchen, das sich gerade in der Krabbelgruppe an der Hand von seiner Mama hochziehen und unbedingt sitzen will, ist vielleicht vier Monate alt. Mit großen Augen schaut der Säugling seine Mutter an – und japst freudig, als die ihr den Wunsch erfüllt. Sie muss der Kleinen nur wenig helfen, schon sitzt das Mädchen, eingesunken und mit rundem Rücken. Unsicher wippt es nach vorne und nach hinten. Dann schreitet die Kursleiterin ein: "Vorsicht", ruft sie, "das schadet der Wirbelsäule!"
Kein Grund zur Panik
Vorsicht, die Wirbelsäule! Gerade Eltern von Säuglingen hören das ständig. Ob sitzen, stehen, tragen, transportieren – überall lauern Gefahren. "Da wird allerhand erzählt und leider viel Angst gemacht", sagt Professor Dr. Robert Rödl. Er ist Chefarzt für Kinderorthopädie am Universitätsklinikum Münster und Vorsitzender der Vereinigung für Kinderorthopädie in der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie.
Die gelegentliche Hysterie sieht Rödl im Phänomen Rückenschmerz an sich begründet. "Der Kreuzschmerz hat wahnsinnig zugenommen, und manche suchen den Grund dafür jetzt in der frühen Kindheit", sagt er. "Dafür gibt es aber keinen Hinweis, schon gar nicht, was das erste Jahr betrifft." Dabei passiert in dieser Zeit durchaus eine ganze Menge. Die Wirbelsäule wächst nicht nur, sondern verändert sich auch stark in ihrer Form.
Vom Bogen zur Doppel-S-Krümmung
Wer die Wirbelsäule eines Erwachsenen von der Seite aus betrachtet, sieht ein Gebilde in Doppel-S-Form. Bei Säuglingen ist das noch anders. "Wenn das Kind auf die Welt kommt, ist die Wirbelsäule rund. Sie verläuft in einem Bogen", erklärt Professor Rödl. Die typische Wirbelsäulenkrümmung kommt erst nach und nach in den ersten ein- bis eineinhalb Jahren.
Zunächst bildet sich die sogenannte Halslordose, also die nach vorne gerichtete Krümmung im Halswirbelbereich. Danach kommt es zu einer Streckung im Brustwirbel- und zuletzt eine Krümmung im Lendenwirbelbereich. Zeitlich fallen die Entwicklungsphasen in etwa mit der Kopfkontrolle, dem Sitzen und dem Laufbeginn der Säuglinge zusammen.
So entwickelt sich Babys Wirbelsäule


Anfangs hat die Wirbelsäule die Form eines Bogens. Die typische Doppel-S-Krümmung fehlt bei Neugeborenen.

Zunächst bildet sich die Rundung an der Halswirbelsäule. Das Kind kann etwa zeitgleich seinen Kopf kontrolliert halten.

Die Brustwirbel strecken sich als Nächstes. Dies geschieht ungefähr, wenn das Kind in der Lage ist, selbstständig zu sitzen.

Die Krümmung im Lendenbereich folgt zuletzt. Sie fällt zeitlich in etwa mit dem Laufbeginn des Kindes zusammen.
"Die Verformung ist ein automatischer Prozess, den man weder beschleunigen noch bremsen kann", betont Rödl. Die Doppel-S-Form sei für den aufrechten Gang notwendig – und biomechanisch sehr günstig, da sie Bewegungen und Erschütterungen abfedert.
Welche Mechanismen genau hinter der Verformung stecken, inwiefern also zum Beispiel die Schwerkraft, der Aufbau und die Veränderung der Muskulatur der Kleinen daran beteiligt sind, ist weitgehend unklar. Trotzdem kann Kinderorthopäde Rödl in drei wichtigen Punkten Entwarnung geben:
1. Bloß nicht nachhelfen, wenn Kinder mobil werden?
Für viele scheint klar, dass Sitzen, Stehen, Laufen schlecht für die Wirbelsäule ist, solange ein Kind dies noch nicht eigenständig kann. "Zunächst einmal muss die zeitliche Einwirkung betrachtet werden", sagt Rödl. "Wenn man Kinder zehn Stunden am Tag in eine Zwangshaltung steckt – egal ob sitzend oder liegend –, ist das schlecht, weil freie Bewegung für sie wichtig ist." Zudem sei entscheidend, von wem der Impuls ausgeht: "Alles, was das Kind will und macht, ist gut."
Von Schäden durch zu frühes, gelegentliches Sitzen sei nichts bekannt – genauso wenig wie durch Lauflernhilfen, die aber ein Unfallrisiko mit sich bringen. Deren Wert zweifelt Rödl generell an. "Kinder fangen an zu laufen, wann sie wollen", sagt er. "In einer Studie wurde versucht, den Laufbeginn mit gezielter Gymnastik vorzuverlegen, ohne Erfolg." Wer mit seinem Kind zwei Stunden spiele, es dabei hinsetze, -stelle oder an den Händen laufen lasse, müsse sich keine Gedanken machen.
2. Tragen mit Blick nach vorn: Ist das in Ordnung?
Ob man das Kind mit dem Bauch oder mit dem Rücken zu sich tragen sollte, darüber wird munter diskutiert. "Generell gilt: Kinder zu tragen ist gut", sagt Robert Rödl. "Und ob ich sie nach vorne, hinten oder auf die Seite schnalle, sie zu mir oder in die Weite schauen, ist für den Rücken relativ egal." Rödl verdeutlicht das an krankhaften Verformungen der Wirbelsäule, die er häufig mit Korsetten zu behandeln versucht. "Das sind knallharte Plastikschalen, die wir anlegen wie Ritterrüstungen. Die Kinder tragen sie teils zwei Jahre lang 23 Stunden am Tag – mit oft minimalen Effekten."
Entscheidender für die Trage-Frage scheinen dem Experten andere Aspekte. Dass etwa der Kopf beim Bauch-an-Bauch-Tragen vor allem im Schlaf stabiler liegt. Und dass diese Haltung bei Kindern, die Probleme mit der Hüftreifung haben, erwiesenermaßen positiv wirken kann. Bedenken sollten Eltern auch den Wind und die Reize, die von vorne kommen – und dass das Kind sie beim Rücken-an-Bauch-Tragen nicht sieht. "Gerade im ersten Jahr ist aber ein guter Kontakt wichtig", meint Rödl.
3. Und was ist mit dem Transport im Anhänger?
Allgemeine gesetzliche Empfehlungen, ab wann Babys im Fahrradanhänger fahren können, fehlen. Manche Hersteller halten es ab dem ersten, andere erst ab dem dritten Monat für möglich. Sie bieten spezielle Hängematten, Sitze und Schalen an, die Schläge abfedern und den Kopf stabilisieren sollen. Dabei gibt es Kritiker, die selbst Zweijährige nicht im Anhänger transportieren würden. Sie sprechen von Schädigungen, die sich erst viele Jahre später bemerkbar machen sollen.
"Ich halte es für abwegig, dass es unterschwellige, nicht akut spürbare Schädigungen mit langfristigen Folgen für den Rücken geben soll", sagt Orthopäde Rödl. "Es sind auch keine speziellen Anhänger-Schäden bekannt, genauso wenig wie Schäden durch den Gebrauch von Kinderwagen und Buggys, bei denen man sich kaum Gedanken über Federungen und dergleichen macht."
Rödl rät, spezielle Babysitze zu verwenden, langsam und auf geteerten Straßen zu fahren sowie Löcher und Huckel zu meiden – und wenn möglich, eine gefederte Variante zu nutzen. "Für die Kinder ist es sicher komfortabler und schöner."