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Spätestens um 12 Uhr hat Sophia Langen (Name von der Redaktion geändert) die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Sie sitzt am Laptop und versucht, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Ihr achtjähriger Sohn Nicolai, der die zweite Klasse einer Kölner Grundschule besucht, stupst sie im Minutentakt an, wedelt mit einem Aufgabenblatt und fragt: "Mama, was muss ich da machen?" Es kam schon vor, dass Langen sich in ihrem Arbeitszimmer einschloss.

Seit einer Woche ist Nicolai in Quarantäne, seine Klassenlehrerin wurde positiv auf Corona getestet. Seitdem werden er und seine 25 Mitschüler via Videokonferenz beschult, zwei Mal am Tag, jeweils eine Stunde. Dazwischen sollen die Kinder Lernvideos ansehen und versuchen, Aufgaben eigenständig zu lösen. An diesem Tag soll Nicolai sich im Internet über sein Lieblingszootier informieren. Doch Nicolai hat weder Ahnung davon, wie er ins Netz kommt, noch, wie er dort Wissenswertes über das Zebra findet. Die Mutter steht ihm zur Seite – und die Arbeit muss mal wieder warten.

Ohne Unterstützung der Eltern geht es nicht

"Die Videokonferenzen mit der Klasse funktionieren eigentlich gut", sagt Langen. "Sie bringen Struktur in den Tag und er freut sich immer sehr darauf, seine Freunde zu sehen. Trotzdem müssen wir Eltern dabei sein. Wie soll ich einen Achtjährigen allein im Internet suchen lassen? Wie sollen Kinder, die gerade lesen gelernt haben, sich die wichtigsten Aspekte mal eben aus dem Netz rausschreiben?"

Das Beispiel der Langens verdeutlicht einen wohl entscheidenden Grund, weshalb sich die Politik schwer damit tut, Regeln zu verschärfen, die zu mehr Heim- und sogenanntem Hybridunterricht führen würden, bei dem ein Teil der Schüler Zuhause und ein Teil im Klassenraum sitzt. Insbesondere die Grundschulen klammerte die Bund-Länder-Runde am Mittwoch praktisch aus. Denn selbst wenn digitale Konzepte vorhanden sind, tun sich jüngere Schüler und ihre Familien schwer mit virtuellem Unterricht.

Grundschüler sollten längst auch digital lernen

Dabei dürfte das, was die Lehrerin von Nicolai in der Quarantäne-Zeit digital auf die Beine stellt, eher vorbildlich und für viele Grundschulen nicht repräsentativ sein. Was die digitale Ausstattung angeht, rangieren die Primarstufen in Deutschland nämlich am untersten Ende. Lehrer berichten von teils uralten Rechnern, auf denen die neueste Software kaum stotterfrei läuft. Ähnlich sieht es bei der kabellosen Internetverbindung aus.

Dabei sollte die digitale Grundschulwelt längst eine andere sein. Laut der im Jahr 2016 beschlossenen Strategie der Kultusministerkonferenz "Bildung in der digitalen Welt" sollte das Lernen mit und über digitale Medien bereits in den Schulen des Primarbereichs beginnen. Was daraus geworden ist, kann auch der neue Bildungsbericht, der erst im Sommer veröffentlicht wurde, aber nicht beantworten: "Inwieweit digitale Medien in den Grundschulen eingesetzt werden, lässt sich mit den bislang zur Verfügung stehenden Daten jedoch nicht beantworten."

An Geld fehlt es nicht. 6,5 Milliarden Euro stellten Bund und Länder in ihrem Digitalpakt den Schulen im vergangenen Jahr zur Verfügung, um für bessere Ausstattung zu sorgen. Doch das Abrufen der Summen ist mit erheblichen bürokratischen Hürden verbunden. Viele Schulen haben diese längst genommen und warten nun, in der Corona-Krise, auf Lieferungen von Laptops, Tablets und Whiteboards sowie die Einrichtung einer stabilen Internetverbindung und WLAN.

Geräte sind vielfach ausverkauft und in vielen Regionen Deutschlands fehlt es auch an Personal für die technische Umsetzung. So zeigte der Lockdown im Frühjahr, der mit vielen Versprechen der Politik und sogar zwei weiteren Digitalpakt-Sondertöpfen für Programme und Geräte einherging, bislang nur mäßig Wirkung.

Engagierte Lehrer kämpfen mit Technik und Datenschutz

Wer wissen will, wie es um den digitalen Unterricht in der Primarstufe bestellt ist, muss deshalb an der Basis forschen. Zum Beispiel bei Lena Simons. Seit vier Jahren unterrichtet sie unter anderem Deutsch, Mathe und Sachkunde an einer Münchner Grundschule, an der sie auch Medienbeauftragte ist. Wie alle ihre Kollegen war auch sie auf den Lockdown im Frühjahr nicht vorbereitet und musste improvisieren.

Anfangs fuhren Simons und ihre Kollegen Arbeitsmaterialien mit dem Fahrrad persönlich zu den Schülern nach Hause. Später richteten sie eine Poststelle zur Abholung in der Schule ein. "Auf diese Weise konnten wir auch sozial benachteiligte Schüler erreichen", sagt die Lehrerin.

Gleichzeitig stellte sich das Kollegium digital auf. "Unser Vorteil war dabei sicher, dass wir ein eher junges Kollegium sind, das keine Scheu vor digitalen Medien hat", sagt sie. Nach internen Debatten entschied sich ihre Schule, mit einer Software zu arbeiten, die eine Art digitale Pinnwand bietet und eine übersichtliche Ordnerstruktur, die auch Kinder bedienen und zum Herunter- und Hochladen von Materialien nutzen können.

Links zu fertigen Lernvideos wurden verschickt, wobei die Größe der Dateien den Lehrern oft zu schaffen machte. "Wir hätten dafür gerne eine Cloud benutzt, die aber ist kostenpflichtig", sagt Lena Simons. Die Videos zum Beispiel durch Videokonferenzen zu ersetzen, dafür fehle gerade den Kindern in der ersten und zweiten Klasse meist noch die Disziplin und das nötige Verständnis. Ein weiteres Problem bei Videokonferenzen: der Datenschutz. "Von den Behörden gibt es bis heute keine klare Aussage dazu, welches Programm wir eigentlich verwenden dürfen", erklärt Simons. Lehrer, die einfach zur Videokonferenz einladen, bewegen sich damit in einer rechtlichen Grauzone. Auch damit, dass die meisten Lehrkräfte ihre privaten Geräte nutzen, weil Dienst-Laptops und -Tablets fehlen, balancieren sie am Rande der Legalität.

Auch manche Eltern zweifeln an der Sicherheit gängiger Konferenz-Tools. An einer Berliner Grundschule hat das Veto von Eltern den kompletten Digitalunterricht auch für Kinder in Quarantäne zum Erliegen gebracht. Wie der Sender RBB berichtet, schaltete ein Elternteil die Datenschutzbeauftragte ein, die der Schule eine Rüge erteilte. Die Schulleitung ergriff daraufhin radikale Maßnahmen und untersagte das Telefonieren mit privaten Endgeräten. Im Ergebnis kam damit beinahe die gesamte Kommunikation zum Erliegen.

Auch nach dem Lockdown hat Lena Simons versucht, digitales Lernen in den Präsenzunterricht zu integrieren. Im Vergleich zu anderen ist ihre Schule technisch eigentlich gar nicht so schlecht ausgestattet. Es gibt Whiteboards, Beamer und einen Computerraum mit mehreren Rechnern. Das Problem: Die Geräte stehen in einem Container-Anbau, der wegen der Corona-Hygienevorschriften nicht genutzt werden darf. Simons musste sich auf anderem Wege behelfen: Um ihren Viertklässlern zum Beispiel beizubringen, wie man E-Mails schreibt, hat sie am heimischen Rechner Screenshots erstellt, diese auf Folie gezogen und in der Schule über einen fast museumsreifen Overhead-Projektor an die Wand geworfen.

Grundschulverband kritisiert Versäumnisse der Politik

Professor Thomas Irion kennt das alles. Er ist Direktor des Zentrums für Medienbildung an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd und im Vorstand des Grundschulverbands. Seine Bewertung des digitalen Unterrichts an deutschen Grundschulen fällt ernüchternd aus. "Die Pandemie legt offen, was die Politik seit Jahren versäumt hat."

Schon vor zwei Jahren formulierte Irion für den Verband einen Forderungskatalog an die Politik: Technische Ausstattung, Qualitätsstandards und praxisnahe Fortbildung von Lehrern und Eltern. Großes Manko: Noch immer gibt es keine kindgerechte und sichere Online-Lernplattform, die auch schon Grundschüler nutzen könnten. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel tüftelt das zuständige Ministerium seit Jahren an einer Lernplattform. Die meisten Schulen aber wollen sie nicht nutzen, da es in der Anwendung ungenügend sei und obendrein keine Videokonferenz-Option biete.

Gerade mit Blick auf die Primarstufe wirft Irion der Politik schwere Versäumnisse vor. "Nach dem ersten Lockdown haben sich viele Ministerien vor allem um die weiterführenden Schulen gekümmert. Die Grundschulen hat man komplett vergessen." Wie die Primarstufe ins Hintertreffen gerät, zeigt auch die Verteilung der Digitalpakt-Milliarden: In Niedersachsen etwa bekommt zwar jede Schule ab 60 Schülern denselben Sockelbetrag von 30.000 Euro. Der zusätzliche Kopfbetrag für Grundschüler aber fällt geringer aus als etwa für Gymnasiasten.

Digitales Lernen in der Grundschule: Wie klappt das?

Irion kann das nicht nachvollziehen. Dabei sei der Einstieg in das digitale Lernen schon ab Klasse 1 didaktisch durchaus sinnvoll, sagt Irion und verweist etwa auf Australien, wo der Einsatz von Tablets und Computern an den Grundschulen längst zum Alltag gehöre. "In Klassen eins und zwei beherrschen die Kinder oft noch nicht die Schriftsprache. Videos sind gerade hier ein gutes Mittel zur Lernunterstützung", sagt der Wissenschaftler. Aber auch für das Feedback seien digitale Tools denkbar. Mit virtuellen Arbeitsmappen, so genannten MuxBooks, könnten Schüler ihre Erfahrungen und Lernfortschritte multimedial aufbereiten. Gleichzeitig sei es wichtig, dem hektischen Bildschirmflimmern einen ruhigen Gegenpol entgegenzusetzen. "Abseits der Geräte sollten Kinder erleben, was Langsamkeit bedeutet. Sie sollten die Natur und ihren Sozialraum kennenlernen."

Genau das setzt Christian Eberhard an der Bonner Gottfried-Kinkel-Grundschule schon jetzt um. Seit dem Lockdown im Frühjahr ist digitaler Unterricht ebenso fester Bestandteil der Lehre wie Ausflüge in die Natur. "Wir haben uns ganz gut eingespielt", sagt der Schulleiter. Derzeit würden im Schnitt ein bis zwei Kinder digital unterrichtet, die wegen Risikopatienten innerhalb der Familie zuhause bleiben müssen. Die Kinder werden morgens zum Klassenkreis live zugeschaltet. In der anschließenden Lernphase arbeiten die Schüler selbstständig. Nachmittags gibt es zwischen Lehrer und Kind ein individuelles Gespräch via Videokonferenz oder am Telefon, in dem die Ergebnisse und Aufgaben für den nächsten Tag besprochen werden.

Seit die Stadt Bonn vor wenigen Wochen 45 Tablets an die Schule ausgeliefert hat, spielt digitales Lernen auch hier eine immer größere Rolle. So haben die Schüler beispielsweise mit einer App Comics zu den Themen Frieden und Gerechtigkeit erstellt und gerade erst ein Hörbuch für den digitalen Adventskalender produziert.

Es gehe bei der Digitalisierung in Grundschulen eben nicht allein darum, wie man idealerweise Unterricht in Kinderzimmer streamt. "Die Pandemie birgt die große Chance auf einen Digitalisierungsschub, aber auch die Chance, Unterricht in der Primarstufe neu zu denken", sagt Eberhard.

Der Bonner Rektor hofft wie seine Münchner Lehrerkollegin Lena Simons, dass ihr und den Schülern eine erneute Schulschließung erspart bleibt. Sollte es trotzdem so kommen, sei sie gut vorbereitet, sagt die 28-Jährige. Vor ein paar Tagen lieferte die Stadt München 15 Tablets für jene Schüler, die zuhause keine technische Anbindung haben.

Was sie ändern will, für den Fall der Fälle? Videokonferenzen wird sie zum Beispiel nur noch für Kleingruppen mit maximal fünf Schülern anbieten. Versuche mit der ganzen Klasse endeten im Chaos. Da hatten Schüler ihre extra stummgeschalteten Mikros wieder auf laut gestellt und die Lehrerin aus ihrer eigenen Konferenz geworfen. "Das ging schon an die Nerven", sagt Simons. "Aber man kann es auch positiv sehen: Auch das ist Medienkompetenz."