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Über 1,5 Millionen Menschen wurden 2022 wegen ihrer Alkoholsucht medizinisch behandelt. Gerade unter den älteren Menschen ist der Anteil der Betroffenen hoch. Das zeigt eine aktuelle Auswertung der Barmer-Krankenkasse. Demnach wird die Alkoholabhängigkeit immer häufiger bei Menschen festgestellt, die in den 1950er- und 1960er-Jahren geboren wurden. Was steckt dahinter? Elke Schurmann, Suchttherapeutin in München, erklärt im Interview die Ursachen und Folgen des übermäßigen Alkoholkonsums und gibt Hinweise zu Hilfe und Beratung.

Frau Schurmann, Sie sind Suchttherapeutin in München und Ansprechpartnerin für das Angebot ‚60+ Suchthilfe-Beratung für ältere Menschen‘ der Caritas. Lohnt sich ab einem bestimmten Alter eigentlich noch der Alkoholentzug?

Elke Schurmann: Eine schwierige Frage, die immer wieder gestellt wird! Aus meiner fachlichen Sicht in der Regel schon. Es hängt allerdings immer davon ab, ob das die jeweilige ältere Person in ihrer Selbstbestimmtheit auch möchte. Tatsache ist, dass ein älterer Körper viel sensibler auf Alkohol reagiert als ein Körper mittleren Alters.

Zwei, drei Gläschen Sekt jeden Abend als Mittel gegen trübe Laune zum Beispiel, was denken Sie da?

Schurmann: Dass es sich hierbei um eine Menge an Alkohol handelt, die deutlich über dem vertretbaren risikoarmen Konsum von Alkohol liegt. Der Weg raus aus der Abhängigkeit oder ein Reduzieren von Alkoholkonsum lohnt sich immer – auch und gerade im Alter. Letztlich spielt jeder einzelne Tag eine Rolle und nimmt Einfluss auf die Lebensqualität. ‚Man kann dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben‘, heißt es. Allerdings: Dort, wo dieses Leben absehbar und endlich ist, kann der Konsum nach ärztlicher Abwägung tolerabel sein.

Was kann zu viel Alkohol anrichten?

Schurmann: Missbrauch oder gar abhängiger Konsum von Alkohol wirken sich nachhaltig schlecht auf den Körper aus. Alkohol ist ein Zellgift und kann entsprechend toxisch auf jedwede Körperzelle reagieren. Krebserkrankungen der Leber, des Mund- und Rachenraums können unter anderem die Folge sein, genauso Bluthochdruck oder eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse.

Ältere besonders häufig betroffen

Über eine Million Männer und fast 500 000 Frauen wurden 2022 in Deutschland aufgrund ihrer Alkoholkrankheit ambulant oder stationär behandelt. Das bedeutet einen leichten Anstieg im Vergleich zum Vorjahr. Hervorgestochen ist die Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen. Dort wurde bei rund 300 000 Männern und 116 000 Frauen eine Alkoholsucht festgestellt. Dies ergab eine akutelle Auswertung des Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung (bifg).

Manche Menschen macht zu viel Alkohol auch sehr aufbrausend.

Schurmann: Richtig. Alkohol wirkt sich letztendlich auch negativ auf die Psyche aus und kann zu Unruhe, Reizbarkeit, Ängsten, Depressionen führen und sogar Suizidgedanken anstoßen oder verstärken. Viele Alkoholabhängige leiden zusätzlich an einer weiteren Erkrankung aus dem psychiatrischen Bereich.

Was ist der Grund, wenn Menschen gerade in höherem Alter alkoholabhängig werden?

Schurmann: Entwickelt sich im fortgeschrittenen Alter eine Alkoholabhängigkeitserkrankung, so hat das meist mit lebensgeschichtlichen Ereignissen zu tun. Vereinsamung etwa kann ein Auslöser sein, wenn Partner oder Freunde gestorben und die Kinder aus dem Haus sind, das Arbeitsleben vorüber ist. Auch Überlastung ist ein Risikofaktor: beispielsweise, wenn man sich um alte Eltern kümmern muss, zusätzlich die Enkel betreut, den eigenen Haushalt und bürokratische Dinge zu regeln hat.

Und dann werden bei vielen Seniorinnen und Senioren auch noch die finanziellen Ressourcen knapper.

Schurmann: Der Missbrauch von Alkohol kann in diesem Zusammenhang als Flucht verstanden werden. Ein Versuch der Bewältigung, der die Lebensqualität allerdings in der Folge noch weiter einschränkt. Dadurch entstehen auch vielfach Konflikte in der Familie und dem Umfeld.

Elke Schurmann, Suchttherapeutin aus München

Elke Schurmann, Suchttherapeutin aus München

Was kann ich als Angehörige oder Angehöriger denn tun? Wie kann ich helfen?

Schurmann: Ganz wichtig ist es erst einmal, keine Vorwürfe zu machen. Generell haftet dieser Thematik nach wie vor ein soziales Stigma an. Bedauerlicherweise unterstellt man Betroffenen teilweise Charakterschwäche oder mangelnden Willen. Dabei ist es wichtig, zu begreifen, dass es sich bei der Alkoholabhängigkeitserkrankung um eine schwere chronische Erkrankung handelt. Diese bedarf einer Behandlung.

Wo erhalte ich hierfür Hilfe und Beratung?

Schurmann: Wenden Sie sich an Ihre Hausärztin oder Ihren Hausarzt. Es gibt auch Fachambulanzen oder Suchtberatungsstellen. Medizinern ist durchaus klar, dass Alkoholmissbrauch weit verbreitet ist. Für sie stellt die Thematik keine Ausnahme, sondern ein immer wiederkehrendes Thema im Praxisalltag dar. Einige Anlaufstellen – wie die Caritas Fachambulanzen in München – bieten altersspezifische Beratungsangebote. Sie richten sich nicht nur an Betroffene, sondern auch an deren Angehörige. Ziel ist immer, dass Betroffene den Alkohol reduzieren und gegebenenfalls ganz abstinent leben.

Steckt das der Körper so einfach weg?

Schurmann: Eine eventuell nötige Entgiftung sollte bei älteren Menschen grundsätzlich stationär erfolgen. Sie haben zum Beispiel für Krampfanfälle oder Delir ein erhöhtes Risiko. Im Rahmen einer stationären Entgiftung kann hier wirkungsvoll medikamentös gegengesteuert werden und die Entzugssymptomatik reduziert werden.

Der Weg raus aus der Abhängigkeit oder ein Reduzieren von Alkoholkonsum lohnt sich immer – auch und gerade im Alter.

Und was bräuchten ältere Menschen bereits im Vorfeld, damit der Alkohol erst gar nicht übermächtig wird?

Schurmann: Mehr Lebensqualität! Und einen Alltag, der einerseits erfüllend und fordern ist, andererseits nicht überfordert. Das alles in Verbindung mit sozialen Kontakten und notwendiger Unterstützung. Das heißt, dass sie eine altersangemessene Alltags- und Freizeitgestaltung finden, die sie wieder zufriedener macht, sie nicht Einsamkeit leiden und Hilfe und Unterstützung erfahren, wenn nötig. Wichtige Ansprechpartner sind hier die Anbieter der offenen Altenhilfe, zum Beispiel Alten- und Servicezentren mit ihren umfangreichen Angeboten, Senioren-Volkshochschulen, Pfarreien und Vereine. Auch lohnt sich immer, darüber nachzudenken, was in jüngeren Jahren Spaß gemacht hat und dies gegebenenfalls wieder zu reaktivieren.

Sie arbeiten schon lange mit suchtkranken älteren Menschen. Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft im Umgang mit Betroffenen?

Schurmann: Zum einen ein Verständnis dafür, dass diese Menschen den Alkohol als Flucht gewählt haben. Gleichzeitig ein Bedauern, dass nicht ein anderer Weg eingeschlagen wurde, um Probleme und Sorgen zu bewältigen. Der Alkoholkonsum stellt nur eine kurzfristige vermeintliche Lösung dar, zumeist schnell verbunden mit Scham- und Schuldgefühlen. Die negativen Auswirkungen auf Psyche und Körper sind auch im Alter gravierend und schädigen die Betroffenen nachhaltig. Hoffnungsvoll stimmt mich, dass auch ältere Menschen in der Behandlung und Therapie immer wieder Alternativen zum Trinken entwickeln. Auch sie haben das Potenzial, lange bestehende oder zurückliegende Belastungen und Probleme aufzuarbeiten. Hierüber entwickeln Sie neue Perspektiven und haben so die Chance, den problematischen Konsum hinter sich zu lassen.