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Das Baby schreit. Eine Stunde lang, zwei Stunden, fünf. Man könnte es als ohrenbetäubend bezeichnen, doch Ohren lassen sich nicht betäuben. Und so nagt jede Stunde stärker an den Nerven, aus Sorge wird Hilflosigkeit und aus Hilflosigkeit verzweifelte Wut. Wenn der Moment kommt, in dem sich der ganze, stundenlang angestaute Frust auf das Baby konzentriert, hilft nur eines: den Schreihals Schreihals sein lassen, vor die Tür gehen, heulen, brüllen, stampfen, tief Luft holen.

Eltern sind sich der Folgen oft nicht bewusst

Tabu aber ist Gewalt gegen das Kind. Es anzuschreien, zu schlagen, zu schütteln, die eigene Verzweiflung an ihm auszulassen. Trotzdem passiert es. Obwohl jeder weiß, dass der kleine Mensch unschuldig und dem großen Menschen gegenüber völlig schutzlos ausgeliefert ist. Jährlich werden 100 bis 200 Babys und Kleinkinder mit einem Schütteltrauma in deutsche Kliniken gebracht. Mehr als die Hälfte von ihnen bleibt ein Leben lang schwer behindert, ist blind oder hat Krampfleiden. Jedes dritte Kind stirbt.

Eltern oder Betreuungspersonen, die deshalb später vor Gericht stehen, sagen häufig, dass ihnen nicht klar war, was das Schütteln bei einem Baby bewirkt. "Viele denken, dass sie, solange sie ihr Kind nicht schlagen, nichts Schlimmes anrichten können", sagt Professorin Anette Debertin, Oberärztin am Institut für Rechtsmedizin und Leiterin der Kinderschutzambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover. Wurde ein Kind geschüttelt, sieht man ihm das nicht an, wie ­etwa bei einem blauen Fleck nach einem Schlag.

Das Gehirn des Babys ist noch leicht verletzbar

Die Schäden, die durch ein Schütteltrauma entstehen, sind viel schlimmer als ein blauer Fleck. Das auch als "Shaken baby"-Syndrom bekannte Verletzungsmus­ter gibt es speziell bei sehr kleinen Kindern. "Ein Säugling hat aufgrund seiner noch schwachen Nackenmuskulatur kaum Kontrolle über seinen Kopf", erklärt Dr. Jakob Matschke, Neuro­­pathologe und Rechtsmediziner an der Universitätsklinik Hamburg-­­Eppendorf. "Hinzu kommt das ungleiche Größenverhältnis zwischen Kopf und dem übrigen Körper. Beides zusammen verstärkt die Kräfte noch, die beim Schütteln auf das Kind einwirken." Außerdem ist bei kleinen Babys die sogenannte Markscheide, die die Nerven schützend umhüllt, noch nicht vollständig ausgebildet. Das Gewebe in ihrem Gehirn ist dadurch viel weicher und verletzbarer als bei Erwachsenen. Während der Kopf gewaltsam nach vorne und hinten kippt, kann daher vieles kaputtgehen.

Das geschieht bei einem Schütteltrauma

Sensibler Mini-Schädel: Wird ein kleines Kind heftig vor und zurück geschüttelt, nehmen zahlreiche Strukturen im Kopf Schaden. Äußerlich zeigt sich das Schütteltrauma nur sehr unspezifisch, etwa durch Müdigkeit oder Atemnot.

Sensibler Mini-Schädel: Wird ein kleines Kind heftig vor und zurück geschüttelt, nehmen zahlreiche Strukturen im Kopf Schaden. Äußerlich zeigt sich das Schütteltrauma nur sehr unspezifisch, etwa durch Müdigkeit oder Atemnot.

Die Blutgefäße der Hirnhäute halten dann den Beschleunigungs- und Abbremskräften des Schüttelns nicht stand und reißen ein. Die Folge: schwere Blutungen unter der Schädeldecke. Auch am Rückenmark können Blutergüsse auftreten. "Wir gehen zurzeit davon aus, dass die größten Schäden im Bereich des Hirnstamms entstehen", sagt Matschke. Denn dort, im Nacken des Kindes, liegen die Nervenzellen, die das Atemzentrum bilden. Von diesem Ort aus wird die Atmung gesteuert – und diese setzt sofort aus, wenn die Zellen verletzt sind.

Schwierige Diagnose, verborgene Schäden

Was genau während des Schüttelns geschieht, können Ärzte bisher lediglich vermuten und anhand der Befunde bei toten und überlebenden Kindern rekonstruieren. "Wie oft und wie stark ein Baby geschüttelt wurde, können wir nur aus Geständnissen erfahren – wenn die Beschuldigten überhaupt etwas erzählen", so Matschke. Sie schweigen oder erfinden Unfälle.

Prof. Dr. Anette Debertin ist Rechtsmedizinerin an der Medizinischen Hochschule Hannover und leitet dort die Kinderschutzambulanz

Prof. Dr. Anette Debertin ist Rechtsmedizinerin an der Medizinischen Hochschule Hannover und leitet dort die Kinderschutzambulanz

Das Problem: "Die ers­ten Zeichen eines Schütteltraumas sind meist Abgeschlagenheit, Erbrechen oder Unruhe. Wenn die Eltern nicht gleich sagen, was passiert ist, geht der Arzt eher von einem Infekt aus", so Debertin.

Wie gravierend ihr ­Fehler war, wird den Eltern oft erst bewusst, wenn das Kind nach einiger Zeit blau anläuft oder bewusstlos wird. Die Misshandlung ist also zunächst kaum offensichtlich. Deshalb hat Rechtsmedizinerin Debertin die Diagnose Schütteltrauma in ihren Lehrplan eingebaut. Jeder Hannoveraner Medizinstudent wird dafür sensibilisiert, genauer hinzuschauen und die richtigen Untersuchungen durchzuführen. Nur so kann den Kindern schnellstmöglich geholfen werden.

Gewalt an Kindern: Hohe Dunkelziffer

Im Jahr 2018 wurden 8548 Kinder in Deutschland Opfer von gefährlicher und schwerer Körperverletzung. Das berichtet das Bundes­kriminalamt in seiner polizeilichen Kriminalstatistik. Dies sind nur die angezeigten Fälle. Wie viele Kinder wirklich misshandelt werden, lässt sich kaum schätzen, Rechtsmedizinerin Debertin geht von einem Vielfachen aus. "Seit 2000 besitzen Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Aber die wenigsten kennen die gesetzlichen Bestimmungen", sagt sie. "Oft handelt es sich bei Misshandlungen um ein Wiederholungs­delikt. Den Kindern wurde nicht zum ­ersten Mal körperliche Gewalt angetan", so Debertin. Blaue Flecke oder verheilte Brüche zeugen davon.

Dr. Jakob Matschke leitet an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf eine Arbeitsgruppe, die Rechtsmedizin und Neuropathologie verbindet

Dr. Jakob Matschke leitet an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf eine Arbeitsgruppe, die Rechtsmedizin und Neuropathologie verbindet

Wenn ein medizinisches Gutachten eine Misshandlung eindeutig belegt, müssen Eltern mit einem Verfahren rechnen. Die Strafen fallen, auch bei sich gleichenden Fällen, unterschiedlich hoch aus. "Manche Richter begründen ein mildes Urteil damit, dass die Eltern die Strafe täglich vor Augen haben", erklärt die Rechtsmedizinerin und meint damit Kinder, die nach einem Schütteltrauma schwerstbehindert sind.

Viele Eltern, vor allem die von Schreibabys, fürchten sich davor, eines Tages die Kontrolle zu verlieren. Gefährdet sind aber diejenigen, die schlecht mit frustrierenden Situationen umgehen können und sich dadurch schnell überfordert fühlen. "Mehr Schreiambulanzen und mehr 24-Stunden-Bereitschaften für überforderte Eltern könnten vielen Familien helfen", sagt Debertin. Große Hoffnungen setzt die Medizinerin in verbesserte Aufklärung: Sie hat mit ihren Kollegen ­eine Kampagne ins Leben gerufen, bei der sie mit Broschüren und Plakaten in Praxen, Kliniken, Apotheken und im Hannoveraner Nahverkehr darüber informiert, wie ein Schütteltrauma entsteht und welche Folgen es haben kann.

Die Ärztin schult außerdem Hebammen, speziell auch Familien­hebammen. "Hier merke ich, welchen Informationsbedarf es gibt. Und ich weiß, dass ich auf diesem Weg die richtigen Personen anspreche." Denn sie tragen ihr Wissen weiter in die Familien. So wichtig die schnelle, umfassende Diagnose bei einem Schütteltrauma auch ist: besser, sie ist gar nicht erst nötig.

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