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Die ersten freien Schritte markieren eine Zeitenwende in der Entwicklung eines Kindes. "Wer auf zwei Beinen unterwegs ist, hat ganz andere Möglichkeiten, die Welt zu entdecken als robbend oder krabbelnd", sagt der auf Bewegungsentwicklung spezialisierte Psychologe Dr. Heinz Krombholz vom Staats­­institut für Frühpädagogik (IFP) in München. Die Kleinen kommen jetzt schneller von einem Ort zum anderen. Vor allem haben sie beide Hände frei, wenn sie sich fortbewegen. "Das eröffnet völlig neue Lebens- und Spielwelten", erklärt der Psychologe. Den Teddy aus dem Wohnzimmer mit zum Zähneputzen ins Bad nehmen? Kein Problem! Das Buch aus dem Regal holen, damit die Oma es mit einem anschaut? Kann ich selber! Den Schlüsselbund, der auf dem Couchtisch liegt, im Kinder­zimmer aufräumen? Eine leichte Übung! "Mit dem Laufen werden Kinder noch selbstständiger und unabhängiger", sagt Krombholz.

Wann lernen Kinder laufen?

Bis ein Kind jedoch die ersten freien Schritte macht, vergehen viele Monate. Der Zeitpunkt ist sehr individuell: Bei den einen Babys ist es schon nach neun Monaten so weit, bei den anderen dauert es fast doppelt so lange. "Wie jede Entwicklung verläuft auch die motorische variabel", sagt Dr. Burkhard Lawrenz, Kinder- und Jugendarzt in Arnsberg. Eltern sollten sich daher nicht von Entwicklungstabellen verunsichern lassen, da diese auf Durchschnittswerten basieren. Jedes Kind hat sein eigenes Tempo, das betonen beide Experten. Sie plädieren dafür, den eigenen Nachwuchs, auch wenn es vielleicht manchmal schwerfällt, nicht mit Gleichaltrigen zu vergleichen. "Gelassen bleiben und den Blick auf das richten, was das Kind schon kann", rät Heinz Krombholz.

Das Lauftraining beginnt mit dem Strampeln

Auch, wenn manche Babys Monate früher loslaufen als andere: Sich aufrichten zu wollen steckt als grundlegendes Bedürfnis in uns Menschen. Das Üben dafür beginnen alle mehr oder weniger zum gleichen Zeitpunkt – in Mamas Bauch. Etwa ab der 16. Woche strampeln Babys, treten gegen die Gebärmutterwand und absolvieren dabei ihr erstes Lauftraining. Sobald ein Kind auf der Welt ist, lässt sich sein Drang zur Bewegung wunderbar beobachten: Liegt es auf dem Rücken, strampelt es wild, zieht seine Beinchen an und streckt sie wieder aus.

Entwicklungstabellen zeigen Durchschnittswerte

Ein motorischer Meilenstein reiht sich nun an den nächsten: Vom Köpfchenheben übers Drehen, Hoch­stemmen, Robben, Sitzen und Krabbeln richten sich Babys immer weiter auf und kommen schließlich auf die Beine. All das schult Muskeln, Gleichgewicht, Koordination und Körperwahrnehmung und lässt Nervenbahnen entstehen, damit letztlich das Laufen gelingt. "Die Meilensteine bauen aufeinander auf, Babys erreichen sie weitgehend in der gleichen Reihenfolge", sagt Heinz Krombholz. In der Studie "Projekt Meilensteine" des IFPs, die noch etwa ein Jahr läuft, untersucht der Wissenschaftler die Bewegungsentwicklung von Säuglingen und Kindern in den ersten beiden Lebensjahren. Die Auswertung der bisherigen Daten zeigt, dass die gängigen Entwicklungstabellen nicht neu geschrieben werden müssen: Stehen mit Festhalten gelingt Babys im Durchschnitt mit elf Monaten, fünf Schritte freies Gehen mit dreizehn Monaten, sicheres Gehen einen Monat später. Erreicht ein Kind die einzelnen motorischen Meilensteine sehr früh, läuft es auch früher als der Durchschnitt.

"Es ist ein Wunder, dass wir Menschen das Laufen überhaupt lernen", sagt Krombholz. Wie komplex der Vorgang und wie ausgefeilt das Zusammenspiel von Gehirn und Muskeln ist, zeigt sich für den Motorik-Experten am Beispiel der Technik: "Einen Roboter zu konstruieren, der auf zwei Beinen geht, fordert Ingenieure wahnsinnig heraus. Und so flüssig wie bei Menschen sieht es nie aus." Dass Babys die Fähigkeit zu laufen mühsam erlernen, hat die renommierte US-amerika­nische Entwicklungspsychologin Karen Adolph in einer Studie gezeigt. Sie wollte wissen, wie viele Schritte Kinder zurücklegen müssen, bis sie frei und sicher gehen können. Im Schnitt, so das Ergebnis, kam jedes Kind auf etwa 14 000 Schritte am Tag, etwa 100-mal fiel es dabei hin.  

Können Eltern das Laufenlernen fördern?

Laufenlernen bedeutet also richtig viel Üben. Forcieren können es Eltern aber nicht. "Laufanfänger immer wieder hinzustellen oder in sogenannte Lauflernhilfen zu stecken bringt nichts", sagt Burkhard Lawrenz. Viel wichtiger: den Kleinen eine Umgebung bieten, in der sie sich sicher und frei bewegen, sich ausprobieren können. Für die erste Zeit nach der Geburt heißt das, das Baby viel auf den Boden legen, damit es nach Lust und Laune strampeln kann. Stundenlanges Pucken oder Liegen in der Babyschale schränkt die Bewegungsfreiheit hingegen stark ein. Ein Kind, das gerade das Hinstellen übt, braucht zum Beispiel Gegenstände, an denen es sich hochziehen kann, ohne dass diese umkippen. Eine kindersichere Wohnung ist deshalb wichtig. "Eltern unterstützen ihre Kinder am besten, wenn sie deren Mobi­lität vorausschauend sowie vertrauensvoll und nicht ängstlich begleiten", erklärt Mediziner Lawrenz. Nur so lernen die Kleinen, auch mit Gefahren umzugehen und Risiken einzuschätzen.

Sind die ersten Schritte geschafft, trainieren Kinder von ganz alleine und unermüdlich ihre neue Fähigkeit. "So banal es auch klingt: Viel laufen bringt viel", sagt Heinz Kromb­holz. Am meisten Spaß macht es natürlich, wenn Mama und Papa dabei sind. Deshalb: sooft es geht, gemeinsam rausgehen und sich zusammen bewegen – auf Wiesen, auf Steinen und auf Sand. Denn jeder Untergrund fordert neu heraus und hilft, das Be­wegungsmuster zu sichern und weiter zu verbessern.